Birgit Birnbacher, Wovon wir leben

Birgit Birnbacher, Wovon wir leben

Wird Zeit, dass das Jahr zu Ende geht. Wenigstens eines habe ich gelernt: die vollständige Atmung. Immer mehr aus als ein. Ziemlich einfach zu merken: immer mehr geben als nehmen.“

Mit diesen Sätzen beginnt der neue Roman Birgit Birnbachers, der im Grunde genommen die Situation der Protagonistin beschreibt. Sie ist in vielfacher Hinsicht am Limit: asthmakrank droht ihr nach der Gesundschreibung wegen eines später als „mittlere Fahrlässigkeit“ eingestuften Fehlers bei der Behandlung einer Patientin als Krankenschwester die Kündigung, was mit dem Verlust der Dienstwohnung verbunden ist, möglicherweise ein Berufsverbot nach sich zieht und mit dem Ende ihrer Affäre mit einem Arzt des Krankenhause einhergeht.
Sie ist sie auf dem Weg „nach Hause“ in ihr Dorf im Innergebirg, wo sie ihre Kindheit verbracht hat und ihre Eltern noch immer wohnen. Dort wird sie in die Einliegerwohnung ziehen und begibt sich wieder in den Dunstkreis ihrer Eltern, bzw. ihres Vaters, denn nach ihrer Ankunft erfährt sie, dass ihre Mutter ihren Vater schon vor Wochen verlassen hat und mittlerweile mit einem anderen Mann in Italien lebt.

In ihrem Dorf lernt sie einen Städter kennen, der nach seiner Kur im nahegelegenen Sanatorium im Dorf bleiben und mit einigen arbeitslosen Dörflern eine alte Dorfkneipe renovieren und als Treffpunkt aufrechterhalten will, was auf ziemliches Unverständnis der Protagonistin trifft, die nur die Enge des Tals und seiner Menschen in ihrem Denken wahrnimmt und dem tyrannischen, egozentrischen, manipulativen Vater möglichst schnell wieder entfliehen will.

Der Roman thematisiert auf der einen Seite den Kontrast zwischen Stadt und Dorf, zumindest so, wie ihn die Protagonistin wahrnimmt, die dann aber durch die Sicht des Städters auf ihr Dorf zumindest ins Nachdenken gerät. Der findet nämlich inzwischen seine bisherige Arbeit als wenig sinnstiftend und beginnt lieber mit anderen Männern des Dorfes das Projekt der Dorfkneipe, das als Treffpunkt erhalten bleiben soll.
Zum anderen wird die Bedeutung von Arbeit mit den jeweiligen Arbeitsbedingungen einer Krankenschwester in der Stadt, der damit verbundene Druck, der dann auch die Gefahr von Fehlern erhöht, und die Bedeutung von Arbeit für die Dörfler verdeutlicht, die eine völlig andere Identifikation mit ihrer Arbeit haben.
Wer, was bin ich mit oder auch ohne Arbeit?
Und wer oder was bin ich, wenn ich mich nicht (mehr) „als Beiwagen des Lebens eines Mannes“ sehen will, wie ihre Mutter, die dann aber, als ihr Noch-Ehemann auf Unterstützung angewiesen ist, vor einer schweren Entscheidung steht?
Welche Verpflichtungen, Verbindlichkeiten gehe ich ein, wenn da jemand ist, der „immer mit allem ein Wir sein (will), während ich einfach nur ich werden mag“? Das aber ist scheinbar nicht vermittelbar:

„Das Gezerre. Der Städter weigert sich zu verstehen: Er hat sich an meinen Ort gebunden und macht es mir damit unmöglich, mich an ihn zu binden. ‚Vergiss den Ort!‘, sagt er. Kein einziges Mal zieht er in Erwägung, ihn selbst zu vergessen.“

Ja, wie genau geht Ich-Werden für die Protagonistin, wenn die alten tradierten Normen als nicht mehr tragend empfunden werden? Bleibt dann sie dann nicht doch „ewig der übergroße Fremdkörper … die eigentlich von woanders kommt?“

Es ist ein Roman der das immer aktuelle Thema der Ich-Werdung nicht nur auf der individuellen „Schiene“ betrachtet, sondern auch die gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten in ihrer Normierung beleuchtet und zugleich deutlich macht, wie anstrengend es sein kann, sich überhaupt auf den eigenen Weg zu begeben, in einer Umgebung, in der das Frauen im Grunde genommen immer noch nicht zugestanden wird.

Birgit Birnbacher, Wovon wir leben, Roman, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023, 189 S. ISBN 978-3-552-07335-7

4 Gedanken zu „Birgit Birnbacher, Wovon wir leben

  1. Wiederum eine tolle Rezension mit Freude gelesen!
    Was Deine Beschreibungen auch so eindrücklich macht, sind einzelne essenzielle Sätze, mit denen Du bereits wesentliche Stimmungen und Farben eines Romans zeichnest, ohne jedoch zuviel zu verraten.
    Tatsächlich sehr wichtige Fragen, denen sich die Protagonistin stellt. Ich bemerke übrigens – und das macht erschrocken -, dass Menschen, denen ein Arbeitsplatz abhanden kommt, plötzlich vor einer ganz eigenartigen Einsamkeit stehen. So, als könnte ein Arbeitsplatz eine familiäre (Ersatz-)Bedeutung haben …
    Wie wird Mensch „Ich“? Über sein „Du“? Wo zieht ein Mensch seine Grenzen? Wie kann sich ein Mensch als Teil eines (großen) Ganzen erleben? Und trotzdem den eigenen Weg finden …
    Deine Zusammenfassung macht mich nachdenklich …
    Späte Grüße, C Stern

  2. Arbeitsplätze sind in der Regel ja auch Orte sozialer Kontakte, egal wie man sie bewertet. Es gab ja auch Generationen, die sich praktisch über ihre Arbeit definiert haben oder auch mussten.
    Ich kann mir vorstellen, dass das Buch auch für sich anregend sein könnte, da die Protagonistin große Probleme mit ihrem Vater hat ;)
    Herzliche Morgengrüße und dir einen guten Start in den Frühlingsmorgen

  3. Ja, Arbeitsplätze bedeuten auch soziale Kontakte.
    In der Eltern-Generation haben sich viele Menschen für einen lebenslangen Arbeitsplatz entschieden oder es hat sich vielfach so ergeben. Das ist heute ganz anders – vor allem im sozialen und auch im kreativen Bereich erlebe ich viele Wechsel, da wird ein Lebenslauf schon mal zwei Seiten lang.
    Auch ich habe schon mehrere spannende Bereiche erlebt und war auch immer wieder offen für Neues. Und ich blicke tatsächlich auf freundschaftliche Beziehungen, die bereits seit mehr als 30 Jahren Bestand haben. An einem ganz bestimmten Arbeitsplatz fühlte ich mich definitiv über einige Jahre zuhause, sowohl in menschlicher Hinsicht, wie auch im Aufgabenbereich. Ja, ich blicke auf sehr erfüllende Zeiten zurück!
    Dir auch ganz liebe Frühlingsgrüße – die Sonne lacht schon :-)

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