
Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter

Und wieder einmal ist Schreiben eine Möglichkeit, zurückzutreten, innezuhalten „Immer am Rand des Schlachtfeldes Ehe“. Gemeint ist die Ehe ihrer Eltern: „Mit großen Kinderaugen verfolge ich das Geschehen. … Schreibend kann ich die Grenze zwischen Flucht und Kampf bewohnen. Ohne zu erfrieren.“
„Lügen über meine Mutter“ erzählt von einer Kindheit im Hunsrück der 1980 Jahre. Die Ich-Erzählerin lebt mit ihren Eltern im Haus der Großeltern väterlicherseits, nachdem sie zunächst in München gewohnt haben. Der Vater ist der Ansicht, das Kind müsse in der Natur aufwachsen. Seine Frau hat er nicht gefragt. Sie muss sehen, wie sie sich einfügt und gegen die Vorurteile und Ressentiments ihrer Schwiegermutter ankommt, die sich auch gegen die eigenen Eltern richten, die sich angeblich für etwas Besseres halten. Geburtstagsgeschenke werden vor dem Hoftor abgelegt, weil diese Großeltern nicht willkommen sind.
Doch damit der Schikanen nicht genug. Die Mutter der Ich-Erzählerin ist für ihren Ehemann zu dick. Sie ist für ihn nicht vorzeigbar, mit ihr meint er, keine gute Figur machen zu können, und sieht darin sogar Gründe für den Stillstand auf der Karriereleiter seiner Firma. Ständig kritisiert er an ihr und ihrer Figur herum, zwingt sie sogar, sich in seinem Beisein regelmäßig morgens auf die Waage zu stellen und erreicht damit: nichts.
Im Gegenteil. Heimliches Essen hochkalorischer Süßigkeiten, Chips als Frustessen ist die Folge. Dass es etwas mit seinem demütigenden, übergriffigen Verhalten zu tun haben könnte, kommt in seinem egoistisch, narzisstischen Denken nicht vor. Schuld sind immer die anderen und seine Frau der Blitzableiter für alles, was ihm nicht gelingt. Und das ist so einiges.
Und sie bekommt immer mehr Bürden aufgehalst: Neben ihren zwei eigenen Kindern nimmt sie noch ein indirekt verwandtes Pflegekind in der Familie auf, damit es nicht ins Heim muss, pflegt ihre demente Mutter, muss sich nach dem Tod um die Haushaltsauflösung und den Verkauf des Elternhauses kümmern, und der Ehemann gibt das Geld aus, was sie geerbt hat: für ein neues prestigeträchtiges Eigenheim. Wenigstens dafür will er bewundert werden.
Die Arbeit hat dann überwiegend sie, die das neue Haus gar nicht möchte, aber auch kein klares NEIN hervorbringt. Es dauert Jahre und viele weitere Demütigungen und Verdächtigungen, bis sie beginnt, sich zu wehren. Sie droht unter anderem mit Scheidung:
„Obwohl er seine Frau für „komplett unzurechnungsfähig“ hielt, wie er in diesen Tagen gern sagte: Die Vorstellung, auf seine finanzielle Schmach auch noch ein Signal des persönlichen Scheiterns zu setzen, war für ihn unvorstellbar. Die Gerüchteküche im Dorf brodelte eh schon. Die Scheidung hätte bedeutet, dass sie das Haus hätten aufgeben müssen, und das war für ihn ausgeschlossen.“
So zieht er – wie seine Frau von ihm gefordert hat – ins Souterrain. So leben sie noch 15 lange Jahre, bis die jüngste Tochter volljährig ist und kein Elternteil mehr gepflegt werden muss. Sie verlässt ihren „goldenen Käfig“ wie sie gekommen ist:
„Mit nichts als ihrem Koffer in der Hand.
Meine Mutter kann stolz auf sich sein. Sie geht, wenn auch spät. Und sie hat ihr großes Herz nie verloren.“
Der Roman – ein Kammerspiel einer Ehe – endet mit einem Appell der erwachsenen Tochter. Sie unterbricht immer wieder ihre Erzählung aus der eher kindlichen Perspektive mit ihren Reflexionen und Fragen an die noch lebende Mutter, weil sie das Geschehen in der Kindheit begreifen, Zusammenhänge erkennen und verstehen will.
„Es braucht so vieles in der Welt. Entschlossenheit, Mut. Rebellion. Aber es braucht auch eine Million solcher Herzen. Die nicht versteinern, die wach und warm und offen bleiben, ganz gleich, welche Narben die Welt ihnen zufügt.“
Der Roman ist berührend und manchmal auch bedrückend, je nach Empathiefähigkeit oder den Erfahrungen in der Kindheit oder einer eigenen Ehe. Die Autorin lässt die zu Wort kommen, die in der Ehe eher nicht gesehen, sondern übergangen worden ist wie so vielen Frauen in der damaligen Zeit, die von zentmentartig verfestigten Vorurteilen, gesellschaftlichen Normen und Rollenvorstellungen über die Ehe, die Stellung von Mann und Frau, und vom Karrieredenken der Männer geprägt war. Frauen waren – überwiegend immer noch – dazu erzogen, leidensfähig zu sein. Und nur das bedeutete zu lieben. Welchen Manipulationen, Verpflichtungen sie zu wessen Nutzen ausgesetzt waren, macht der Roman deutlich.
Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter, Roman, Kiepenheuer&Witsch, Köln, 3. Aufl. 2022, 445, S. ISBN 978-3-462-00199-0
4 Gedanken zu „Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter“
Dieses Buch steht bereits auf meiner Liste –
und durch Deine Rezension werde ich mich noch rascher darum bemühen … Vielen Dank für Deine tolle Zusammenfassung!
Es wird mich sicher sehr an die eigene Kindheit erinnern, denn ich habe in unzähligen Situationen erlebt, wie meine Mutter von meinem Vater gedemütigt und niedergemacht wurde – und noch mehr. Gegangen ist sie sehr spät – ins Seniorenheim, und nur, weil es aufgrund ihrer Erkrankung sein musste. Ich freue mich für sie, dass sie meinen Vater nicht mehr ertragen muss. Ich hätte ihr diese Freiheit schon sehr viel früher gegönnt – aber ihr Pflichtbewusstsein war übermächtig …
Das wird dann für dich sicher eine schmerzliche Lektüre, die aber auch die Chance zur Heilung bereit hält, dann nämlich, wenn man genau schaut, wo es weh tut, wo man mit dem Gelesenen in Resonanz geht.
Gutes Gelingen und einen ebensolchen Start in die neue Woche.
Herzliche Grüße
Zum grossen Glück bin ich nicht in einer solchen Familienkonstellation aufgewachsen. Aber ich denke, das Thema ist exemplarisch für ganz viele frühere Ehen.
Für solche Frauen war es fast unmöglich, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Heute ist die Mehrheit der Frauen selbständiger, finanziell unabhängiger und autonomer.
Was wohl nicht heisst, dass es diese ehelichen Machtverhältnisse nicht mehr gibt…
Einen lieben Gruss zum Wochenbeginn,
Brigitte
Da ist dir sicher einiges erspart geblieben. Und das freut mich für dich. Ich merke noch heute an einigen Stellen meine Prägungen. Doch inzwischen kann ich sie akzeptieren und schauen, ob ich daran etwas ändern kann und will – ein lebenslanger Prozess.
Wünsche dir einen guten Wocheneinstieg.
Liebe Grüße