Eva Vieznaviec, Was suchst du, Wolf?

Eva Vieznaviec, Was suchst du, Wolf?

„Alkoholiker sehen die Welt immer vom dunklen Abgrund aus. Um an der Oberfläche zu bleiben, muss ein bestimmtes Maß an Trunkenheit gehalten werden, sonst wird alles unerträglich. So ist die Realität dieser Krankheit.“
Nein, es ist kein Roman über eine Alkoholikerin, obschon Ryna, die auf dem Weg von Deutschland, wo sie als Altenpflegerin gearbeitet hat, nach Hause ist, als „städtische Alkoholikerin“ bezeichnet wird, die die innere Leere mit Alkohol dämpft, sobald sich diese bei aufsteigender Nüchternheit bemerkbar macht. Mit dem Zug fährt sie nach Belarus zur Beerdigung ihrer Großmutter Darafeja, die, als sie im 101. Lebensjahr starb, „fast blind und dürr wie eine Bohnenstange, aber bei vollem Bewusstsein und Kräften“ war. In Minsk angekommen bemerkt Ryna die überall vorherrschende Tristesse, vor allem in den Gesichtern der Menschen:

„Ein emotionsloses Volk, Gesichter wie beim Möbius-Sydrom. Weder tot noch lebendig. … In einer Kultur des Überlebens muss die Mimik minimalistisch sein.“

Wie sich diese Kultur des Überlebens entwickelt hat, erfährt man im Verlauf des Romans, der sich wie ein Zwiegespräch zwischen Ryna und ihrer Großmutter Darafeja liest – bei ihr ist sie auch aufgewachsen – die mit ihren Erzählungen über ihr Leben im belarussischen Dorf Lipjen die Geschichte des 20igsten Jahrhunderts mit all ihren Grausamkeiten an der belarussischen Bevölkerung streift. Blitzlichtartig, in drastisch deutlicher Sprache, die „kein Blatt vor den Mund nimmt“, dennoch viel Raum für eigene Fantasien lässt, erzählt sie von der Unterdrückung und der Ausbeutung durch die eigenen Landsleute, durch Russen unter Stalin und durch Deutsche während des Zweiten Weltkrieges. Mit dem Ergebnis, dass der heimatliche Boden „leer, stumm und blind, dem Tode nah“ ist und „Das Volk wurde damals klein, kümmerlich, schwachbrüstig und krummbeinig geboren, und davon ganz viele. In jeder Hütte gab es drei bis sieben Kinder. Irgendwie wanden sie sich durch, irgendwie lernten sie etwas.“

Ihrer Enkelin hatte sie geraten, wegzugehen: „Nichts wird an diesem Ort. Geh du weg, meinetwegen zu den Deutschen oder zu den Amerikanern, oder zu diesen Polen. Diese Idioten lassen einen hier nicht leben, verwüsten alles.“ Die Großmutter selbst hat die Zeit überstanden, weil sie als Heilerin – die Menschen bezeichneten sie allerdings als Hexe – angesehen, geachtet war und mit dem Wissen über die Erkrankung hochrangiger Männer an diversen Geschlechtskrankeiten, über ihre sexuellen Gewalttaten, die Geburten diverser Bastarde etc. sich einen gewissen Schutz erarbeitet hatte.
Ryan hat als Heilerin keine Chance, obschon sie viel von der Großmutter gelernt hat, denn viele Grundlagen ihrer Heilkunst, wie Kräuter etc., gibt es nicht mehr.

Der nur 142 Seiten umfassende Roman hat es in sich. Es ist kein Roman für Menschen mit schwachen Nerven, denn Seite um Seite liest man von den Grausamkeiten an z.B. jüdischen Minderheiten, die von allen zu allen Zeiten als Sündenböcke verfolgt, deren Kultur zerschlagen und deren Lebensgrundlagen vernichtet werden. Schwierigkeiten bereiten beim Lesen zudem die vielen Orts- und Zugehörigkeitsnamen ob ihrer Vielzahl und Ungewohntheit.

Es ist dennoch ein wichtiges, ein deutliches Buch, ein gewaltiger Roman, der einem die Möglichkeit bietet, wenigstens ein wenig zu verstehen. Trinken, Gewalt und Sterben halten auch in der Gegenwart an:

„In der Woche nach Darafejas Beisetzung gab es tatsächlich sieben Todesfälle. Und alle waren schwerwiegend, alle Männer.“
Das ist einer der letzten Sätze dieses Romans.

Eva Vieznaviec, Was suchst du, Wolf? Roman, a.d. Belarussischen v. Tina Wünschmann, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023, 142 S., ISBN 978-3-552-07336-4

6 Gedanken zu „Eva Vieznaviec, Was suchst du, Wolf?

  1. Das scheint relativ schwere Lesekost zu sein.
    Ich weiss nicht, ob ich mir das antue…
    Aber ich lese deine Empfehlungen immer sehr gerne.
    Lieben Gruss,
    Brigitte

  2. Es freut mich, dass du meine Besprechungen magst.
    Ja, man/frau sollte sich das bei diesem Buch gut überlegen.
    Mit interessiert an solchen Büchern auf der einen Seite, wie Menschen solch traumatische Erlebnisse überleben, wie sie danach weiterleben, welche Ressourcen ihnen zu Verfügung stehen etc. Und auf der anderen Seite die sprachliche Beschreibung, die Fähigkeit eigentlich Unfassbares sprachlich dann doch zu fassen.
    Liebe Grüße

  3. Ich gehe an Romane in ähnlicher Weise heran, vor allem interessiert mich auch immer ein WIE? des Weiterlebens.
    Und es spielt auch Sprache eine große Rolle. Deshalb auch mag ich z.B. „Drachenläufer“ und „Tausend strahlende Sonnen“ von Khaled Hosseini. Als ich einmal las, seine Sprache sei einfach, dachte ich mir, dass ich sein Englisch nicht kenne, aber die deutschen Übersetzungen als sehr gelungen empfinde. Sie bringen noch etwas Blumiges ein, das in seinem ursprünglichen Kulturkreis ja oft gegenwärtig war. Das Blumige ist es auch, was mir ebenso an Rumis Gedichten gefällt.
    Und ein schöner poetischer Film ist „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“.
    Herzliche Grüße,
    C Stern

    1. Ich kenne nur „Tausend strahlende Sonnen“ nicht. Die Art des Schreibens gefällt mir sehr, gleichwohl bin ich in meiner Schreibsprache nahezu das Gegenteil. Aber das macht ja nichts. Sie haben etwas angenehm Weiches in ihrer Art zu schreiben, dennoch weichen sie essentiellen Themen nicht aus, ganz im Gegenteil.
      Hab einen schönen Sonntag – vielleicht mit einer guten Lektüre.

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