Lene Therese Teigen, Schatten der Erinnerung

Lene Therese Teigen, Schatten der Erinnerung

Die Autorin geht in diesem Roman – überwiegend gespeist aus Tagebuchaufzeichnungen, Notizen und Briefen von Tulla Larsen und Edvard Munch – der Frage nach: Wer war Tulla Larsen wirklich? Sie will damit der vorherrschenden – mehr oder weniger reinen – Fiktionalisierung und Marginalisierung Tulla Larsens entgegenwirken, die aus ihrer Sicht das bisherige Bild Tulla Larsens in der Literatur prägen.

Schon früh beginnt sich Tulla dagegen zu wehren, als Frau ihre Bestimmung als „aufopfernde Hausfrau mit großer Kinderschar“ in der Ehe zu finden. „Ich musste etwas anderes finden, das mir als Lebensinhalt dienen konnte.“
Daher lehnt sie alle Männer ab, mit denen ihre Mutter sie verheiraten will. Sie will einen ebenbürtigen Mann, der sie nicht bloß als „dummes Frauenzimmer“ betrachtet.

Sie hat künstlerische Ambitionen. Und als sie Edvard Munch kennenlernt, glaubt sie, diesen Mann gefunden zu haben, der ihr eine andere, eine neue Welt eröffnet. Das tut er auch, allerdings völlig anders als erhofft. Sie gerät an einen Menschen, den sie bewundert, von dem sie geliebt werden werden will und merkt erst, als es ihr völlig schlecht geht, an wen sie geraten ist. Lange Zeit hat sie die Anzeichen dieser äußerst toxischen Beziehung, in der es nur um das geht, was Edvard will, nicht wahrhaben wollen, sein egozentrisches, narzisstisches Verhalten mit seiner so empfindsamen Künstlerseele, seiner angeschlagenen Gesundheit (v)erklärt.

Mein „Herz schwand und schwand und wurde kleiner und kleiner und härter und härter, bis ich nichts mehr hatte. Weder Tränen noch Schreie. Mein Schrei verschwand, er hatte ihn gestohlen. Hinein in seine Bilder damit: Du bist so und so, genau so bist du. Er hat meine Persönlichkeit gestohlen, sie zu etwas umgeformt, das er brauchte, um seine Vorstellungen davon zu bestätigen, wie die Welt zusammenhängt.“

Sie erkennt – allerdings erst sehr spät den Teil ihrer eigenen Verantwortung, das sie sich den anmaßenden Forderungen Edvard Munchs bis hin zur Selbstaufgabe, -verleugung angepasst hat.

„So bin ich, passe mich meinen Männern an.“
Aber das macht sie auch in den nach dieser Beziehung bzw. Verlobung mit Edvard Much folgenden Ehen. Und – wahrscheinlich viel zu spät – fragt sie sich:

„Sind ein paar Jahre Verliebtheit all die Veränderungen für so viele Menschen wert? Wenn das Leben erst an Fahrt aufgenommen hat, ist es schwer umzuschalten, die Hauptpersonen um sich herum auszutauschen.“

Ihre Energie und Kraft erschöpfen sich in der anfänglichen Rebellion gegen die bürgerlichen Vorstellungen über Frauen, die sie ablehnt. Tulla Larsen findet aber nicht die Kraft, nicht nur eigene Vorstellungen zu entwickeln, sondern dafür einzustehen und sie kreativ und konsequent auch zu leben. Ihr fehlen u.a. Vorbilder bzw. Tulla scheut auch die Konsequenzen, die es für sie im Alltag als Unverheiratete oder gar Geschiedene zur Folge hätte. Denn vor allem will sie geliebt und anerkannt werden als die, die sie ist. Merkt aber kaum, dass sie in Beziehungen stets bereit ist, die damals typische Rolle der Ehefrau nach außen hin zu übernehmen, also nicht mehr die zu sein, die sie ist und sein könnte.

„Hans findet es toll, eine Künstlerehefrau zu haben, die er vorzeigen kann, wenn Freunde ihn zum Abendessen besuchen.“

Innerlich distanziert zu ihrer Rolle und sich selbst – betäubt sie ihren Schmerz zunehmend mit Alkohol. Letztendlich wird sie, die immer älter war als ihre Ehemänner, gegen eine Jüngere ausgetauscht:

„Männer suchen sich jüngere Ehefrauen. Die können sich ihrer annehmen, wenn sie älter werden, und die können sie dazu bringen, sich jünger zu fühlen.“

Sicher schafft Lene Therese Teigen es, Tulla Larsen als Person sichtbar zu machen und nicht als bloßes Anhängsel Edvard Munchs. Es ist das Portrait einer unsicheren, gespaltenen Persönlichkeit entstanden, die weit unter ihrem Potential gelebt hat, was nicht nur ihrer eigenen Unentschlossenheit geschuldet ist, sondern auch den damals geltenden gesellschaftlichen Normen und Sanktionen, denen Frauen in noch höherem Maße unterworfen waren als Männer, die ja zumindest überwiegend Träger, Verteidiger und Nutznießer dieser patriarchalischen Strukturen waren.

Es ist ein teilweise quälendes Buch, das zum einen dem Inhalt geschuldet ist, denn Tulla holt sich ihre Vergangenheit mit Edvard Munch durch die Briefe und Notizen aus dieser Zeit – offiziell zwar verbrannt, letztlich aber von ihr sorgfältig versteckt – immer und immer wieder hervor und leidet immer und immer wieder, obschon ihr zunehmend stärker ihre eigene Verantwortung bewusst wird.
Doch dann gibt es da – auch immer wieder – die Kommentare, Bewertungen, Anmerkungen des Erzählers, der das Offensichtliche noch einmal meint deuten zu müssen. Das war mir persönlich an manchen Stellen dann doch zu viel. So als könne man als Leser:in nicht eigenständig denken.
Dennoch: ein interessantes, ein wichtiges Buch.

Lene Therese Teigen, Schatten der Erinnerung, Tulla Larsen und Edvard Munch, Roman, a.d. Norwegischen v. Daniela Stilzebach, Ebersbach & Simon, Berlin 2022, 319 S., ISBN 978-3-86915-254-7

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