Sina Scherzant, Taumeln

Sina Scherzant, Taumeln

„Sie sind auf der Suche. Sie suchen eine junge Frau, die seit beinahe zwei Jahren niemand mehr gesehen hat und die vermutlich tot ist.
Meine große Schwester war wunderschön.
Vielleicht ist sie es noch immer.
Dass sie wunderschön war, das dachten zweifellos alle bei uns zu Hause, und möglicherweise dachten es auch die Falschen.“

Luisa, die jüngere Schwester der vermissten Hannah, schreibt als Ich-Erzählerin, was es mir ihr, ihrem Leben und dem ihrer Eltern macht und gemacht hat, dass ihre Schwester vermisst wird, während – im Wechsel – ein auktorialer Erzähler von den anderen an der Suche Beteiligten erzählt.

Zu Beginn haben sich Hunderte an der Suche beteiligt, nunmehr ist es eine Gruppe von noch acht Personen, die sich auch nach Jahren noch jeden Samstag in den Wald begeben. Treffpunkt ist der Wendehammer – ganz in der Nähe des Elternhauses der Vermissten, da wo eine Dorfbewohnerin Hannah zuletzt gesehen haben will.

Tief innen weiß Luisa, dass ihre Schwester nicht mehr lebend im Wald gefunden werden kann. Doch die Suche aufzugeben, würde auch heißen, die Hoffnung aufzugeben, was gleichbedeutend damit wäre, die Schwester aufzugeben. Luisa aber fragt, sich dennoch:

„ob sie überhaupt noch nach ihrer Schwester suchen, nach zwei Jahren. Aber irgendwas scheinen sie doch zu suchen, hier im Wald, bei elf Grad, leichtem Nieselregen, irgendwas muss ja hier sein.“

Und nach und nach erhält man Einblicke in die Leben der an der Suche Beteiligten. Sie geraten ins Taumeln, mal im wahrsten Sinn des Wortes, mal im übertragenen Sinne. Ein Riss entsteht in der von ihnen gewählten Rolle bzw. Fassade, der wahre Untiefen erkennen lässt, die die Suchenden auf keinen Fall freiwillig preisgeben würden: tiefe Einsamkeiten, diverse Abhängigkeiten, Gewalt und Lebensgewohnheiten und -gewöhnlichkeiten, die einen menschliche Abgründe erleben lassen. Und bei allen ist da die Angst vor der Einsamkeit spürbar:

„Entweder man ist allein, oder man lebt in ständiger Angst, es irgendwann zu sein.“

Den menschlichen Halt, den fast alle in ihrem Leben vermissen, den suchen sie bei den Beteiligten der Vermisstensuche, bis Luisa dann letztendlich ausspricht, was sicher alle denken:

„Meine Schwester ist hier nicht“, … und keiner von ihnen erlebte in diesem Moment echte Verwunderung.
Und doch, irgendetwas haben sie gesucht, da im Wald, bei heute neunzehn Grad, Quellwolken, irgendetwas muss ja dort gewesen sein.“

Der Roman nimmt erst im Verlauf der Handlung an Spannung auf, je mehr Einblicke man in die Persönlichkeiten der Einzelnen erhält. Sprachlich stellt der Roman keine großen Anforderungen. Er ist leicht lesbar. Gestolpert bin ich das ein oder andere Mal über verwendete Metapher, wenn zum Beispiel der Wald mit einem Rachenraum, mit Zähnen, Zunge etc. verglichen wird. Die Vergleichsebene hat sich mir nicht erschlossen.

Sina Scherzant, Taumeln, Roman, park x ullstein, Berlin 2024, 318 S., ISBN 978-3-98816-016-4

2 Gedanken zu „Sina Scherzant, Taumeln

  1. Eine schreckliche Vorstellung, seine Schwester, sein Kind oder den Partner auf diese Art zu verlieren ohne jeden Anhaltspunkt und jeden emotionalen Abschluss. Das muss etwas vom Schlimmsten für die Psyche sein.
    Danke für die Buchvorstellung zu diesem aufwühlenden Thema.
    Lieben Gruss, Brigitte

    1. Genau das wird an einer Stelle auch thematisiert, wenn Luisa darüber nachdenkt, welches Leid wohl schwerer wiegt, das von Angehörigen, die jemanden durch einen Unfall oder ähnliches verloren haben oder ihres, wobei ihr auch bewusst ist, das Leid nicht aufzuwiegen ist.
      Liebe Grüße

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