Thomas Bernhard, Der Atem

Thomas Bernhard, Der Atem

„Der Atem“ ist eine kurze Novelle über den langen, krisenhaften Krankenhausaufenthalt des achtzehnjährigen Ich-Erzählers und seinen späteren Aufenthalt in einer Lungenheilanstalt. Eine Phase, in der lange nicht klar ist, ob er seine Lungenkrankheit überhaupt überleben wird. Sie ist im Residenz Verlag als Graphic Novel erschienen, gezeichnet von Lukas Kummer, einem 1988 in Innsbruck geborenen Illustrators, der in Kassel studiert hat.

Lukas Kummer benutzt keine Farben, er bewegt sich in der Gestaltung der Geschichte ganz im Rahmen von Schwarz und Weiß bzw. den dazwischen liegenden Grauschattierungen, mit denen er die unterschiedlichsten Gefühlsfärbungen der in der Handlung vorkommenden Personen sichtbar macht – insgesamt überzeugend nachvollziehbar, daher gut gelungen. Nur der Titel auf dem Cover sowie die inneren Einbandseiten sind in einem hoffnungsfrohen Grün gehalten.

Aufgeteilt sind die Seiten meist in sechs von einander abgetrennten, inhaltlich oft – bis auf den Text – nahezu identischen Bildern.

(© Lukas Kummer, Residenz Verlag)

Nur ab und an werden sie durch ein ganzseitiges Format abgelöst, etwa wenn die Gesamtsituation des Ich-Erzählers, seine Einsamkeit und gefängnisartige Isolation trotz oder gerade wegen der Massenbelegung der Räume sichtbar gemacht werden soll.

(© Lukas Kummer, Residenz Verlag)

Ich habe ein wenig gebraucht, um in einen Lesefluss zu kommen, konnte ich mich doch des öfteren nicht entscheiden, ob ich nun eher den Fokus auf den Text oder die Bilder legen sollte. Eine merkwürdig interessante und ungewohnte Leselenkung.

Der Aufenthalt des Ich-Erzählers wird nicht zuletzt durch den ebenfalls kranken, im gleichen Krankenhaus liegenden, heiß geliebten Großvater zu einer denkwürdigen Zeit. Der Großvater macht ihm klar, dass Krankenhäuser, sowie Gefängnisse und Klöster – wobei sich Gefängnisse, Klöster und Spitäler im Grunde überhaupt nicht unterscheiden – „lebensentscheidende existenznotwendige Denkbezirke sind“, denen sich Künstler aller Couleur, besonders aber Schriftsteller aussetzen müssten. Nachdem ein großes Bettlaken auf sein Bett gefallen ist, das er aus krankheitsbedingter Unbeweglichkeit nicht wegschieben kann, entscheidet sich der Ich-Erzähler bewusst fürs Leben:

„Von zwei möglichen Wegen hatte ich mich in dieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick für den des Lebens entschieden. Die Tatsache, daß die schwere, nasse Wäsche nicht auf mein Gesicht gefallen und mich nicht erstickt hatte, war die Ursache dafür gewesen, daß ich nicht aufhören wollte zu atmen. Ich hatte nicht wie der andere vor mir, aufhören wollen zu atmen, ich hatte weiteratmen und weiterleben wollen.“

Zudem entsteht im Sterbezimmer eine liebevolle Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Mutter, die er achtzehn Jahre lang so schmerzlich vermisst hat. Das, was seine Mutter von ihrem Vater, also seinem geleibten Großvater erzählt, stimmt so gar nicht mit seinen eigenen Erfahrungen überein:

„Mein Großvater war kein guter Vater seiner Kinder gewesen, er hatte überhaupt keinerlei ernsthafte Beziehung zu seiner Familie gehabt und haben können, wie er nie ein Zuhause gehabt hatte, denn sein Zuhause war immer nur sein Denken gewesen …“ Vielleicht hat er als Großvater – wie so viele andere auch – da etwas „nachholen“, „wieder gut machen“ wollen.

„Der Atem“ ist eine gelungene Mischung von Text und Bild, zudem eine Fundgrube von Formulierungen, die man so schnell nicht wieder vergisst:
Die Besuchszeiten werden als „öffentliche Besichtigung des Sterbezimmers“ bezeichnet, das Sterbezimmer als eine „pausenlos und intensiv und rücksichtslos arbeitende Todesproduktionsstätte„.
Ein typischer Thomas Bernhard halt. Für mich immer wieder lesenswert.

Thomas Bernhard, Der Atem, gezeichnet von Lukas Kummer, Graphic Novel, Residenz Verlag, Salzburg-Wien 2021, 109 S., ISBN 978-3-7017-1746-0

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