Tommie Goerz, Im Schnee

Tommie Goerz, Im Schnee

Draußen Schnee, meine Schuhe ohne „Winterbereifung“. Da lässt es sich gut zu Hause sein, mit einem Buch auf der Couch, das vom Titel her zumindest jahreszeitlich passt und dem folgendes Zitat vorangestellt ist:

„Die Weggegangenen sind überall.“
Étienne Kern, Die Entflogenen

Es ist die Geschichte von Max, dem Protagonisten dieses Romans, und Schorsch, der jetzt tot ist. Beide leben schon immer in ihrem Dorf. Aber sicher ist es auch die Geschichte dieses Dorfes und seiner BewohnerInnen.

„Ob der Schorsch ein Freund war? Diese Frage hat er sich nie gestellt. … der war halt immer dagewesen. Und jetzt war er weg. Gestorben. Tot.“

Und dennoch: „Es war da etwas zwischen ihnen gewesen. Auch wenn sie schwiegen. Oder an der Aus saßen und ihrem leisen Gluckern lauschten, dort, wo sie über die Steine floss. … Fast heilige Momente waren das, nur für sie beide.
Und jetzt war der Schorsch nicht mehr.“

Dass jemand tot ist, hat Max über das Läuten des Totenglöckchens erfahren. Gunda hat nach dem Tod ihrer Mutter diese Aufgabe übernommen, dass es der Schorsch ist, dann von der Lisl, die es ihm zugerufen hatte.

„Unter den Apfelbäumen lag Schnee. Der Max stand am Fenster und sah hinaus in den Garten. … Es schneite, und er musste nicht nach draußen. Er hatte alles, und niemand wartete auf ihn. Es hätte ein so schöner Tag werden können.
Und plötzlich war die Welt eine andere.“

Das Läuten des Totenglöckchens ist der erste Schritt in einer Reihe von Schritten, die bis zur Beerdigung in diesem Dort nach tradierten Ritualen beschritten werden. Der Tote wird in seinem Haus aufgebahrt und dann halten die Dorfbewohner eine Nacht lang die Wacht. Zuerst die Männer bis Mitternacht, weil die ja am nächsten Tag arbeiten müssen, danach bis zum Morgengrauen die Frauen. Ihr früherer Protest, doch auch mal zu wechseln, da sie ja auch arbeiteten, ändert nichts. Sie haben im Dorf kaum etwas zu sagen.

Die einzige, die sich traut zu sagen, was sie denkt, auch den Männern, ist Schorschs Frau Maichert, um die er lange gegen den Willen seines Vaters hat kämpfen müssen, der sie für nicht tauglich genug für seinen Hof gehalten hatte.

Während der Wacht erzählen sich die Männer Geschichten über den Verstorbenen, die tiefe Einblicke in das Funktionieren der Dorfgemeinschaft gewähren und deutlich machen, um welchen Preis diese aufrechterhalten wird: unausgesproche, eisern geltende Regeln, die die Kinder des Dorfes schon mit der Muttermilch aufsaugen, die nicht hinterfragt werden dürfen, gegen die nicht verstoßen werden darf, ohne drastische Strafen nach sich zu ziehen, über die dann wiederum Stillschweigen gewahrt wird.

Über Kinder, Kranke, die auf einmal nicht mehr da sind, die man vielleicht noch eine zeitlang hören, die man aber nie mehr zu Gesicht bekommt, wird – wenn überhaupt – hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Schweigen, Wegsehen, keine Fragen stellen: Denn „wenn man schweigt, kommt man sehr gut miteinander aus. Worüber man nicht spricht, das gibt es nicht. Alte Dinge rührte man nicht an. Man wollte, man musste ja zusammenleben.“ So funktioniert ihr Dorfleben.

Als die Frauen die Wacht übernehmen, „änderte sich alles. … es wurde feierlich im Raum und auch etwas kirchlich. Die Frauen stellten Kerzen auf, zündeten in einer Schale ein Bröckchen Weihrauch an und sangen ein Lied. Sie sangen leise und lang.“ Sie waschen und richten den Toten her, erledigen ihre Handarbeiten, stricken, knacken Nüsse, tauschen sich über Rezepte aus. Und der Max bleibt, er will mit den Frauen zusammensein. „Nur diese Nacht würden sie alle noch gemeinsam verbringen, dann war endgültig Schluss, und deshalb wollte der Max auch mit den Frauen zusammen wachen. Für die war das völlig normal, und die Männer kümmerte es nicht.“

Einem durchreisenden Fotografen, der Schorsch in seiner Umgebung, so wie er ist und lebt, vor der Kulisse des verschneiten Dorfes fotografieren will, erscheint das Dorf oben vom Hügel aus, dort, wo der Max und der Schorsch oft gemeinsam auf ihrer Bank gesessen haben, als Idylle, friedlich daliegend wie ein stiller See: „Dieser Frieden, diese Ruhe, diese kleine intakte Welt. … Da zu wohnen, muss unheimlich schön sein.“

Max dagegen denkt: „Das Dorf ein ruhiger See, eine Idylle? Es war ein Rattennest. Wohin man sah, stieß man auf Komisches und Fragen, manchmal auf Dreck und Müll.“ Und dennoch wohnt er gern da, es ist ja sein Zuhause, ein anderes hat er nicht.

Schorsch Beerdigung findet dann ohne den Max statt, auf den man lange vergeblich gewartet hat, bis der Pfarrer nicht mehr warten konnte.

Es ist ein leiser, stiller Roman, in einfacher Sprache personal erzählt, der Dorfgemeinschaft, aber auch menschliche Untiefen darstellt, die einen fassungslos machen und mich an eigene Erlebnisse in meiner Kindheit erinnern. Und das waren nicht die schönsten meines Lebens. Und dennoch erzählt er auch von einer tiefgehenden, lebenslangen, besonderen Freundschaft zwischen Max und Schorsch.

Tommie Goerz, Im Schnee, Roman, München 2025, 173 S., ISBN 978-3-492-07348-6

3 Gedanken zu „Tommie Goerz, Im Schnee

  1. Ach, die gute alte Zeit, so gut war sie eben doch nicht und doch fand man sich darin zurecht, mal besser mal weniger.
    Die Geschichte spricht mich sehr an.
    Einen lieben Sonntagsgruss, Brigitte

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert