David Foenkinos, Charlotte
Mit „Charlotte“ ist David Foenkinos ein überaus lesenswerter, eigenwilliger Roman über die Malerin Charlotte Salomon gelungen, über ihr Leben und ihr Werk. Quelle dieses Romans ist nach eigenen Angaben Charlottes Werk Leben? Oder Theater?, das sie im Exil geschaffen und ihrem Arzt, der sie unterstützt hat, mit den Worten C’EST TOUTE MA VIE übergeben hat.
„Aber was ist damit genau gemeint?
Ich übergebe Ihnen mein Werk, das mein ganzes Leben erzählt.
Oder: Ich übergebe Ihnen ein Werk, das mir so viel bedeutet wie mein Leben.
Oder vielleicht: Mein Leben geht zu Ende, hier ist es.
Heißt es, dass ihr Leben zu Ende geht?
Mein GANZES Leben.
Man kann den Satz auf alle möglichen Arten lesen.
Und alle Möglichkeiten scheinen zuzutreffen.“
Ergänzend zieht der Autor eigene Recherchen hinzu, die entstanden sind, als er Charlottes Wege nachgegangen ist und versucht hat, sich in sie hineinzuversetzen, nachzuempfinden, wie es ihr ergangen ist in einer Familie, in der sich viele, meist weibliche Familienmitglieder umgebracht haben, ein Tabu, das nicht thematisiert werden darf, aber die Familienatmosphäre intensiv beeinträchtigt. Erschwerend kommen die Einschränkungen hinzu, denen Juden im Nazideutschland ausgesetzt sind und Charlotte zunehmend vereinsamen lässt.
Daran kann auch ihre Liebe zu Alfred nichts ändern, den sie verlassen muss, als sie nach Frankreich ins Exil geht. Ihr ist das im Gegensatz zu ihrer Familie und Alfred noch möglich, weil sie noch nicht volljährig ist.
„Alfred beugt sich zu Charlottes Ohr.
Sie glaubt, dass er ihr sagen wird: Ich liebe dich.
Weit gefehlt.
Er sagt etwas viel Gewichtigeres.
Einen Satz, an den sie immer denken wird.
An dem sie sich festhält.
„Mögest du nie vergessen, dass ich an dich glaube.“
Dieser Satz trägt sie. Und mit der Unterstützung einiger Menschen im Exil, die ihre geniale Begabung erkennen, kann ihr Werk entstehen. Und Dank David Foenkinos kann der Leser daran teilhaben. Er begleitet sie bis zu ihrem Tod in der Gaskammer von Auschwitz.
Das Buch bewegt, berührt, lässt Raum für eigene Gedanken, denn vieles wird nur angedeutet, mit Sätzen, die in jeweils einer neuen Zeile beginnen, sich an den sonst gängigen Satzbau nicht halten, weil auch Nebensätzen der gleiche Stellenwert wie einem Hauptsatz eingeräumt wird. Wieso auch Haupt- und Nebensätze, wo doch alles gleichgewichtig, gleichwertig ist?
„Charlotte“ ist ein gelungenes Denkmal für die ermordete Dichterin, die in ihrem Werk weiterlebt und erneut im MIR in Gelsenkirchen in der neuen Saison in einer Ballettaufführung – wenigstens für die Dauer der Aufführung – wieder lebendig wird. Dem Buch wünsche ich noch viele Leser und kann es nur als äußerst lesenswert empfehlen.
David Foenkinos, Charlotte, Roman, a.d. Franz. v. Christian Kolb, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015, 237 S., ISBN 978-3-421-04708-3
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