Delia Owens, Der Gesang der Flusskrebse
Schon lange habe ich keine mehr so packenden, hinreißenden und berührenden Roman gelesen. Was heißt gelesen? Eher verschlungen, neudeutsch würde man von einem „pageturner“ sprechen.

Delia Owens ist ein Roman gelungen, der inhaltlich spannend und mitreißend erzählt ist, der dem Leser zahlreiche Möglichkeiten bietet, sich mit Kya, der Protagonistin – von allen nur abwertend das „Marschmädchen“ genannt – zu identifizieren und mit ihr die noch unberührte Natur des Marschlandes von North Carolina zu erkunden.
Freunde im üblichen Sinne des Wortes hat sie keine, bis auf Jumpin‘ und seine Frau Mabel, als Farbige zu der Zeit Außenseiter wie Kya, die sie tatkräftig unterstützen und dafür sorgen, dass sie etwas zum Anziehen und genug zu essen hat. Denn Kya lebt völlig auf sich allein gestellt, im Marschland. Sämtliche Familienmitglieder haben sie nach und nach verlassen: zunächst die Mutter, dann ihre Geschwister und zuletzt der Vater, der eigentliche Fluchtgrund der anderen.
„Pa hatte sie alle geschlagen, vor allem, wenn er betrunken war. Oft war er ein paar Tage hintereinander einigermaßen okay gewesen, und sie hatten zusammen Hühnersuppe gegessen und einmal sogar am Strand einen Drachen fliegen lassen. Dann: Trinken, fluchen, schlagen. An einige seiner Wutanfälle konnte sie sich noch glasklar erinnern.“ Andere hatte sie verdrängt, zu entsetzlich waren seine Attacken.
Nicht Trauer beschäftigt sie, als auch der Vater eines Tages nicht mehr wiederkommt, sondern ihre Einsamkeit und die existentielle Not, sich ohne Unterstützung von außen zu ernähren.
“ ‚Vielleicht sollte ich in die Schule gehen und mich bei den Behörden melden. Die geben mir wenigstens zu essen und schicken mich in die Schule.“
Doch nach kurzem Nachdenken sagt sie: ‚Nee. Ich kann die Möwen nicht verlassen, die Reiher, die Hütte. Die Marsch ist die einzige Familie, die ich hab.‚ “ Insgeheim hofft sie allerdings immer noch, dass ihre Mutter eines Tages zurückkommt und sie dann in der alten (Familien-) Hütte vorfindet.
Kya ist ideenreich, intelligent und klug, auch wenn sie nur einen Tag in der Schule war und nie wieder dorthin will, weil sie dem Spott der anderen Kinder hilflos ausgesetzt war. Sie kann demnach weder lesen noch rechnen. Doch sie kann gut beobachten und kennt sich vor allem in der Marsch gut aus. Sie buddelt Muscheln aus und tauscht diese gegen Lebensmittel und Benzin ein, damit sie das Boot ihres Vater weiter nutzen kann. Zu Tate, einem früherer Freund ihres Bruders, entwickelt sie langsam Vertrauen. Er schenkt ihr zunächst besondere Federn, die er in die Spalte eines Baumstammes steckt, bevor er sich ihr zeigt und Kontakt zu ihr aufnehmen kann. Er erkennt auch ihre Intelligenz und enorme Fähigkeit der Naturbeobachtung und unterstützt sie tatkräftig, indem er ihr ihr zunächst Lesen, Schreiben und Rechnen beibringt und ihr damit eine neue Welt, u.a. die Welt der Poesie eröffnet:
„Langsam enträtselte sie jedes Wort des Satzes: ‚Manche Menschen können ohne wilde Dinge leben, und manche können das nicht!‘
‚Oh‘, sagte sie. ‚Oh.‘ ‚Du kannst lesen Kya, Es wird nie wieder eine Zeit geben, in der du nicht lesen kannst.‘
‚Das isses nich allein.‘ Sie flüsterte beinahe. ‚Ich hab nich gedacht, dass Wörter soviel meinen können. Ich hab nich gewusst, dass ein Satz so voll sein kann.‘
Er lächelte. ‚Das ist aber auch ein sehr guter Satz. Nicht alle Worte sagen so viel.‘ … Lesen zu lernen, war die größte Freude, die sie je gehabt hatte.“ Und sie gewöhnt sich an, alles zu lesen, was sie in die Finger bekommt.
Kya kann sogar eine gewisse körperliche Nähe zu Tate zulassen, etwas, was für sie insgesamt sehr schwierig ist. „Jemanden zu berühren, hieß für sie, einen Teil von sich zu verschenken, den sie nie zurückbekommen würde.“ Als Tate zum Studium die Stadt verlassen muss, verspricht er Kya, sie nicht zu vergessen und zu ihr zurückzukommen. Doch er hält sein Versprechen nicht. Und wieder fühlt sie ihre Einsamkeit und Verlassenheit und fragt sich, warum gerade sie immer verlassen wird.
Nach längerer Abwesenheit Tates gibt Kya dem Werben Chases nach, einem bei jungen Mädchen und Frauen sehr begehrten jungen Mann, bei dem sie nicht sicher ist, ob er sie mag oder sie nur als Trophäe erobern will. Doch ihre Einsamkeit ist zu übermächtig, sie sehnt sich nach Gemeinschaft. Und obwohl sie sich geschworen hatte, sich nie wieder auf jemanden einzulassen, wird sie „sein Muschelmädchen“.
„Sie wusste dass diese Sehnsucht vollkommen widersinnig war. Irrationales Verhalten, um eine Leere zu füllen, bringt keine wirkliche Erfüllung. Wieviel gibst du auf, nur um nicht einsam zu sein?“
Jahre danach finden zwei Jungen den inzwischen verheirateten Chase tot im Sumpf unterhalb des Feuerwachturms, einem Aussichtsturm in der Gegend.
Die Untersuchungen des örtlichen Sheriffs bringen einige Ungereimtheiten ans Licht, die darauf hindeuten, dass Chases Tod kein Unfall war, wie es vielleicht auf den ersten Blick ausgesehen hat. Und Kya, das Marschmädchen, gerät unter Verdacht, wird verhaftet und wegen Mordes angeklagt.
Kyas Lebensgeschichte und die Aufklärungsbemühungen der örtlichen Behörden werden im Wechsel erzählt und nähern sich zeitlich an. Zahlreiche inhaltliche Wendungen machen den Roman spannend, der zum Schluss einem Krimi ähnelt, obschon die Geschichte Kyas auch märchenhafte Züge aufweist, was den Unterhaltungswert des Romans nicht schmälert.
Delia Owens, Der Gesang der Flusskrebse, Roman, a.d. amerik. Englisch v. Ulrike Wasel u. Klaus Timmermann, hanserblau, München 2. Aufl. 2019, 460 S., ISBN 978-3-446-26419-9
2 Gedanken zu „Delia Owens, Der Gesang der Flusskrebse“
interessant! diesen roman höre ich gerade als hörbuch und bin genau so gefesselt davon. 1/3 hab ich geschafft:-))).
lieber gruß
Sylvia
Bei Hörbüchern schweife ich zu oft ab.
Beim Lesen nicht so wild, da kann ich zurückblättern;)
Mir hat’s immer besser gefallen. Viel Freude noch!