Jackie Thomae, Brüder

Jackie Thomae, Brüder

„Brüder“ ist der zweite Roman der als Journalistin und Fernsehautorin arbeitenden Jackie Thomae. Sie erzählt die Geschichte von Mick und Gabriel, zwei Männer in der Mitte ihres Lebens, die Halbbrüder sind, weil sie einen gemeinsamen senegalesischen Vater haben, der zum Studieren in die DDR gekommen war. Weder Nick noch Gabriel kennen ihren Vater, noch wissen sie voneinander. So werden folgerichtig ihre Geschichten auch getrennt voneinander und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt.

Nick lebt in den Neunzigern als zwanzigjähriger „Nachtlebendesperado“ Berlin und schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, kauft u.a. alte Platten auf, begleitet einen Fotografen bei seiner Arbeit, versucht sich als Drogenkurier und ist laut „offiziellem Nachweis keiner sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgegangen“.

Nick ist spontan, unstet, unkonkret, will sich nicht binden, ist eben der „coole Typ“. Mit zwei Freunden leitet er eine Art Disco, die überaus gut läuft – leider haben sie das Finanzamt dabei vergessen.

Er ist in einer Beziehung mit Delia, die als Juristin arbeitet, mit ihm in einem Haus und in der steten Hoffnung lebt, dass er sich ändere und mit ihr eine Beziehung führt, die aus ihrer Sicht die Bezeichnung „Beziehung“ tatsächlich verdient. Sie wünscht sich ein Kind – nur hat er „vergessen“ ihr zu sagen, dass er sich hat sterilisieren lassen. Durch Zufall erfährt sie diese Wahrheit und trennt sich von Nick.

Mit Dreißig geht sein altes Leben zu Beginn der Jahrhundertwende mit mehreren „Paukenschlägen“ zu Ende:
„Stell dir vor, du muss zurück auf null. Stell dir vor, dass alles, was dein Leben ausgemacht hat, nicht mehr existiert. Stell dir vor, du wirst gleichzeitig obdachlos, erwerbslos und partnerlos. Stell dir vor, du bist erst dreißig und hast die beste Zeit des Lebens bereits hinter dir, was dir erst jetzt bewusst wird. Stell dir vor, niemanden interessiert das.“

Hinzu kommt ein gesundheitliches Aus mit noch nicht abschätzbaren Konsequenzen. Bei einer Souncheckprobe hat er – vor einer riesigen Box stehend – das volle Volumen aufs Ohr bekommen, was ihn zwei Tage lang buchstäblich ins Koma geschleudert hat.

„Seine Habseligkeiten passten in einen kleinen Transporter. Nachdem er sie verstaut hatte, sah das Haus aus wie vorher, komplett eingerichtet, komplett ausgestattet. Die materielle Lücke, die er hinterließ, war so lachhaft klein, als wäre er nur zu Besuch gewesen. Die Frage, ob er überhaupt eine Lücke hinterlassen würde, deprimierte ihn noch mehr als die Frage, warum er in all den Jahren sein Leben mit nichts angefüllt hatte als mit Platten, Turnschuhen und ein bisschen Sperrmüll.“

So startet Nick in einen neuen Lebensabschnitt, in dem nur das Unsichere sicher ist.

Sein in London lebender Halbbruder Gabriel hat es als Stararchitekt weit gebracht. Die Erzählung seines Lebens, im Wechsel aus der Ich-Perspektive Gabriels und seiner Ehefrau Fleur, beginnt mit einem – für sein Leben außergewöhnlichem Vorfall, einem Wutanfall gegenüber einer jungen Frau, die später als eine seiner farbigen Studentinnen identifiziert wird. Gabriel wird von der Polizei zu Hause abgeholt und – aus seiner Sicht – zum „Feindbild der Presse und jeder Art von Antidiskriminierungsgruppierung“ stilisiert, obschon für ihn selbst seine Hautfarbe keine oder nur eine rudimentäre Rolle gespielt hat.

Er hat sich nie ernsthaft über seine Hautfarbe Gedanken gemacht, bis er einmal in einem Krankenhaus ein Formular mit vier Kategorien zu Herkunft, Hautfarbe, Nationalität etc. ausfüllen soll, was die Absurdität und völlige Unwissenschaftlichkeit solcher Kategorien für ihn noch einmal sichtbar macht.

„Ging es also doch nach Farben oder dem Weißanteil? Dieser Bogen war so fehlerhaft, dass ich meine Schmerzen vergaß, dafür aber fast manisch wurde. Ich fühlte mich wie auf einer Matheolympiade, wusste aber, dass die Aufgabe nicht lösbar war. Es gab keine klare Linie.“

Allerdings hat er immer wieder bemerkt, dass es für andere in seiner Umgebung direkt oder indirekt ein Thema war.

Sein Leben wird quasi in der Rückblende erzählt, wohl auch als Erklärung für dieses für Gabriel so untypische Verhalten. Er stand kurz vor einem burn-out, negierte aber alle Anzeichen und auch die gut gemeinten Hinweise seiner Frau und seines Geschäftspartners, mit dem er befreundet ist. Gabriel hat bis dahin mit, nach der Überzeugung gelebt, „sein Leben wäre perfekt.“

„Unterbrochen“ wird der Roman durch kurze Einschübe über Idris, den Vater der beiden, der sich erst als bereits etablierter Arzt in Afrika, verheiratet und Vater von zwei Töchtern, während eines Deutschlandaufenthaltes wieder an seine beiden Söhnen und die Mütter der beiden erinnert. „Zuviel Vergangenheit macht alt,“ davon ist er überzeugt. Doch zu Hause angekommen, versucht er Kontakt zu seinen Söhnen aufzunehmen.

Auf dem Flughafen von Paris, quasi auf neutralem Boden, kommt es dann zu einem ersten Kontakt, allerdings nicht in der erwarteten Konstellation.

Die Autorin enthält sich jeglicher Vergleiche und Bewertungen hinsichtlich der beiden Brüder. Das überlässt sie den LeserInnen dieses interessanten Romans. Und das ist gut so, könnte es doch leicht zu einem moralisierenden Roman geraten.

Jackie Thomae, Brüder, Roman, Hanser Verlag, Berlin 2019, 430 S., ISBN 978-3-446-26415-1

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