Joyce Carol Oates, Der Mann ohne Schatten

Joyce Carol Oates, Der Mann ohne Schatten


Der Roman ist die Geschichte einer außergewöhnlichen, nein eher unmöglichen Beziehung zwischen der Neurowissenschaftlerin Margot Shape und ihrem Forschungsobjekt Elihu Hoopes, die über dreißig Jahre besteht. Schon der Beginn macht das Ungewöhnliche deutlich und enthält thematisch alles, was den Roman ausmacht, inhaltlich und stilistisch.

„Anmerkung zur Amnesie. Projekt „E.H.“(1965-1996)
Sie lernt ihn kennen, sie verliebt sich. Er vergisst sie.
Sie lernt ihn kennen, sie verliebt sich. Er vergisst sie.
Sie lernt ihn kennen, sie verliebt sich. Er vergisst sie.
Schließlich nimmt sie Abschied von ihm, dreiunddreißig
Jahre nach ihrer ersten Begegnung. Auf seinem Sterbebett
hat er sie vergessen.

Er steht auf einer Holzbrücke in einer Sumpfniederung, die Beine leicht gespreizt, und stemmt die Fersen in den Boden, wappnet sich gegen den plötzlichen Windstoß.
Er steht auf einer Holzbrücke an einem ihm unbekannten Ort, der wunderschön ist. Er weiß, dass er sich wappnen muss, klammert sich mit beiden Händen am Geländer fest.
Hier an dem ihm unbekannten Ort, der wunderschön ist, und trotzdem die Angst, dass er, wenn er sich umdreht, in dem seichten Bach unter der Brücke hinter sich das ertrunkene Mädchen sieht.
… nackt, ungefähr elf Jahre alt, ein Kind. die Augen offen und blicklos, im Wasser schimmernd. …“

Margot Shape ist protegierte Mitarbeiterin, Doktorandin und heimliche Geliebte Professor Ferris‘, dem Leiter eines neurologischen Labors an der Universität von Darven Park, in dem über das menschliche Gedächtnis geforscht wird. Sie ist mit ihren 23 Jahren eine sehr junge, äußerst ehrgeizige, angehende Wissenschaftlerin. Ihre Arbeit ist ihr Leben. Darüberhinaus hat sie keine Kontakte. Sie verbringt ihr Leben im Labor, unterbrochen von sporadischen privaten Treffen mit ihrem Geliebten, den sie zu lieben glaubt.

Elihu Hoopes hatte sich mit einer Herpes-simplex-Enzephalitis infiziert, die – äußerst selten – sein Gehirn befallen hatte. Eine Notoperation schädigte sein Erinnerungsvermögen. Er kann sich seitdem nur noch an Dinge, Menschen, Ereignisse vor dem Ausbruch seiner Krankheit erinnern, nicht aber an das, was er gerade erlebt, mit wem er gesprochen hat. Ein äußerst interessantes Forschungsobjekt. Hoopes ist intelligent, attraktiv, charmant, eloquent, künstlerisch begabt und verarbeitet, das, was ihn bewegt meist mit Kohlezeichnungen, die er in einer Mappe sammelt und immer bei sich trägt, aber niemandem zeigt.

Margot Shape arbeitet mit Akribie immer neue Test für ihren Probanden aus, veröffentlicht zunächst mit ihrem Professor und anderen Mitarbeitern viele Arbeiten, die in der Wissenschaftswelt Aufsehen erregen und darüberhinaus Neugierde und Begehrlichkeiten wecken. Daher wird die Identität des inzwischen sehr bekannten Objekts geheimgehalten. Später publiziert sie nur noch selbst.

Allmählich beginnt Shape sich für Hoopes auch als Mann zu interessieren, glaubt seine Einsamkeit zu spüren, seine Isolation und versucht Zugang zu ihm zu finden, zu seinen Emotionen, seinen Bedürfnissen. Sie sorgt immer öfter dafür, mit ihm allein zu sein, geht mit ihm spazieren, fährt ihn nach Hause, beginnt sich mit seiner Tante anzufreunden, forscht in seiner Vergangenheit, die sie sich dann zu Nutze macht, um mit ihm ins Gespräch zu kommen, da er sich daran ja noch gut erinnern kann.

Er ist es, dem sie sich anvertraut, da sie genau weiß, dass er sich an die Gespräche nicht mehr wird erinnern können. Auf diese Weise lernt der Leser die Wissenschaftlerin als Mensch kennen: einsam, isoliert, zunehmend alkoholabhängig, mit allen Begleiterscheinungen, das Shape aber sehr gut verbergen kann. Hoope wird ihr Lebensinhalt, beruflich und privat, wobei das später nicht mehr auseinanderzuhalten ist. Sie verletzt immer mehr ethische und wissenschaftliche Normen, gaukelt ihm gar vor, sie seinen verheiratet und besorgt Eheringe, entwendet Zeichnungen aus seiner Mappe, die sie in ihrer unwirtlichen Wohnung aufhängt.

„Sie ist in Sicherheit bei sich zu Hause, wo der Thermostat niedrig gestellt ist, um Heizkosten zu sparen. Zu Hause sind die Jalousien den ganzen Tag heruntergezogen. Sie trägt dicke Strickpullover und Wollsocken; wenn es so kalt ist, dass ihr Atem dampft, setzt sie eine Wollmütze auf. An den Wänden hängen Bleistift- und Kohlezeichnungen von E.H., die Margot über die Jahre diskret aus Elis Zeichenmappen herausgeschnitten hat; einige hat sie gerahmt, die meisten aber sind mit Klebestreifen befestigt. Die größten messen einszwanzig mal vierzig, die kleinsten sind zeichenblockgroß. Es handelt sich nach Margots Ansicht um Originalkopien, die anderen Zeichnungen E.H.s wiederholen – E.H. wird sie nicht vermissen.
Für Margots Augen sind die Zeichnungen großartig und traumgleich, sind so schön wie die Zeichnungen von Edvard Munch, vor allem die von dem ertrunkenen Mädchen mit dem Haar, das den Kopf umfließt in dem sonnenbeschienenen seichten Bach, und den auf dem fahlen Leib liegenden Schatten der winzigen, fast unsichtbaren Wasserläufer.“

Der Roman erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, aus denen der Wissenschaftlerin, des Probanden und eines auktorialen Erzählers. Dabei kommt es immer wieder zu Überschneidungen, etwa die detaillierten Beschreibungen ihres Äußeren, die wiederholten, ebenfalls bis ins kleinste dargelegte Schilderungen des im Bach liegenden Mädchens, Hoopes Cousine, die eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Der wurde aber in der Familie verschwiegen. Dieser Tod und das damit verbundene Redeverbot quälen Hoopes immer noch. Doch er fühlt sich daran gebunden. Immer noch.

Der Roman ist nicht einfach zu lesen, die verschiedenen, nicht immer sofort zuzuordnenden Perspektiven, die wissenschaftlichen Termini, die detaillierten Beschreibungen von fast allem – dem Äußeren der Personen, ihrem Ehrgeiz, die Testverfahren, die Schwierigkeiten weiblicher Wissenschaftlerinnen in der von Männern dominierten Wissenschaftswelt – sind schon herausfordernd.

Die distanzierte Art der Darstellung zieht einen emotional nicht unbedingt und sofort in die Geschichte. Und das ist gut so. So hat man als Leser genug Spielraum, sich die menschlichen Abgründe vorzustellen und sich mit der Frage zu beschäftigen, wer eigentlich der unheilbarere Kranke ist: Hoope oder Shape.

Joyce Carol Oates, Der Mann ohne Schatten, Roman a.d. Amerik. v. Silvia Morawetz, S. Fischer Verlag, 2.Aufl. Frankfurt 2018, 379 S., ISBN 978-3-10-397276-4

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