Lotti Huber, Jede Zeit ist meine Zeit

Lotti Huber, Jede Zeit ist meine Zeit

„Ein Mann schleppt sich müden Schrittes die Landstraße entlang. Keuchend, nach Atem ringend, bleibt er stehen, dann bricht er zusammen unter der Last seines schweren Rucksackes.
Aus dem Morgennebel tritt eine Frau auf ihn zu: „Was hast Du? Warum stehst Du nicht auf?“
„Ich kann nicht“, stöhnt der Mann, „die Last meines Rucksackes erdrückt mich.“
„Dann laß ihn liegen, und geh weiter.“
„Das kann ich nicht“, jammert der Mann, „in ihm steckt mein Leben, meine Zeit.“
Die Frau schüttelt den Kopf: „Sieh nur, was Du dir antust, wie Du daliegst, nennst Du das Leben? Öffne den Rucksack, und sieh Dir Deine Zeit an, deren Sklave Du geworden bist.“
Der Mann tut, was ihm die Frau befiehlt. Der Rucksack ist voller Pakete, viele schon total zerfleddert, dennoch fest verschnürt. Mit einer großen Schere schneidet die Frau die Schnüre auf: „Schau, schau nur hin, was du mit Dir herumschleppst! Lohnt sich diese Last?“
Da liegt es vor dem Mann: vergangenes, gewesenes, vergilbtes Leben. Der frische Morgenwind treibt den zerbröckelten Inhalt des Rucksacks vor sich her, weiter, immer weiter, bis er sich in der Ferne in Staub auflöst.
Der Mann erhebt sich, dehnt seine Schultern und merkt, wie sie breit und stark werden. Und setzt seinen Weg fort.
„Ja“, ruft die Frau, „geh nur – geh weiter! Es gibt noch viel für Dich zu tun. Denn jede Zeit ist Deine Zeit.“

Diese Geschichte ist eine Art Vorwort. In ihrem als Gespräche formulierten Buch gibt Lotti Huber Auskunft über ihr Leben gibt, auf ihr eigene skurrile Art und Weise. Themen wie Tod, Kunst, Film, Schönheit, Jugend, Emanzipation und Sexualität werden angesprochen und verständlich formuliert, ohne aber Tiefe aufzuweisen. Leitfaden ihres Lebens ist das Motto: „Noch immer lerne ich “ , ein Auspruch Franciso Goyas im Alter von 80 Jahren. Als selbstständige Frau war Lotti Huber in ihrem Leben- oft gezwungnermaßen – darauf angewiesen, Neues in Angriff zu nehmen. Meist hat es ihr offensichtlich Spaß gemacht.
Auf die Frage:“Was gibt einem künstlerischen Leben mehr Impulse? Eine Jugend wie deine oder eine, wie die heutige Genration sie erlebt?“ antwortet sie:
„Das ist eine wahnsinnig schwere Frage. Denn wenn ich jetzt sagen würde, daß ohne Leiden, ohne Schmerz und ohne Provokation keine Entwicklung stattfinden kann, dann wünschte ich der heutigen Jugend etwas, was ich ihr wahrhaftig nicht wünsche. Auf der anderen Seite weiß ich, daß kein Lebensweg glatt sein kann. … Die Jugend hat es heute wesentlich leichter … das birgt Gefahren, da sie nicht gewappnet ist, schwierige Situationen durchzustehen.“

Lotti Huber, Jede Zeit ist meine Zeit, Gespräche St. Gallen 1991, 165 S. ISBN 3 86034 101 4

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