Michael Reh, Katharsis

Michael Reh, Katharsis

In oder mit diesem Roman hat Michael Reh seine eigene Missbrauchsgeschichte verarbeitet, um aufzuklären, Mut zu machen, das, was missbrauchten Kindern passiert, nicht zu verschweigen, ihnen zuzuhören, aufmerksam zu sein und ein Klima in Familien zu schaffen, wo Reden, Aufklären das Mittel der Wahl ist und nicht das Schweigen.

Max lebt als erfolgreicher Fotograf in Amerika, ohne Kontakt zu seiner Familie, als seine Schwester ihn aus Paderborn anruft und ihm mitteilt, es sei etwas Schreckliches passiert. Sein Zwillingsbruder Nikolas habe zwei Menschen ermordet und sitze nun im Gefängnis.

„Alles hat sich verändert. Nicht nur ihr Leben und das der Familie während der letzten zwei Wochen, nein, die ganze Welt hatte sich für sie verändert. Alles war zurückgekommen, die Wahrheit hatte sich nicht verdrängen lassen. Sie hätte es besser wissen sollen, schließlich was sie die Älteste in der Familie. „

Max fliegt zurück in seine alte Heimat, in den Alptraum seiner Kindheit und Jugend, den seine Familie für ihn gewesen ist. Seine Versuche zu verstehen, warum sein Bruder seine Tante Magda und seinen Onkel Erich brutal erschlagen hat, konfrontieren ihn mit seiner eigenen Vergangenheit und Geschehnissen, die er bisher so tief verdrängt hatte, dass ihm nur langsam dämmert, was auch ihm von dieser Tante angetan worden ist.

Dieser Bewusstwerdungs- oder Aufarbeitungsprozess von Max – erzählt von einem allwissenden Erzähler, der in die Perspektiven aller Beteiligten schlüpfen und ihre Sichtweise durch innere Monologe als Teil des ganzen Beziehungsgeflechts einbringt – macht deutlich, in welcher Atmosphäre Kindesmissbrauch lange unentdeckt bleiben kann, weil Erwachsene, Familienmitglieder, aber auch Ärzte und Lehrer wegschauen, den Kindern nicht zuhören oder nicht zulassen wollen, dass das, was sie erlebt haben, öffentlich wird. Mit fatalen Folgen für die Betroffenen und ihr gesamtes Leben.

Michael Reh gelingt es, eine Familiengeschichte zu schreiben, die verdeutlicht, dass Schweigen, das Verschweigen von Kindesmissbrauch -zumindest in der Familie von Max und Nikolas – eine lange Tradition hat, dass Täter oft selbst Opfer waren, aber auch ihnen niemand geglaubt und geholfen hat, sich zu wehren, den Missbräuchen ein Ende zu setzen.

Die gesellschaftliche Atmosphäre in den noch stark autoritär und patriarchalisch geprägten Fünfzigern des letzten Jahrhunderts, in dem Werte wie „Zucht“ und „Ordnung“, „Gehorsam“ etc. hochgehalten wurden, um des „lieben Friedens willen“ manches unter den Teppich gekehrt wurde, bis man kaum mehr darüber gehen konnte, und derjenige, der sich dagegen auflehnte, als „Unruhestifter“, „Nestbeschmutzer“ abgewertet und sanktioniert wurde, wird in diesem Roman noch einmal „wach“.

Ich selbst bin nicht von sexuellem Missbrauch betroffen, doch der Status von Kindern, der Umgang der Erwachsenen mit ihnen, den Gören, den Blagen, Prügel statt Auseinandersetzung, gehorchen müssen, ohne fragen zu dürfen, das alles und die Langzeitfolgen auch in der eigenen Biografie, in der Neugier als Untugend gebrandmarkt wurde, nur weil Erwachsene keine Antworten hatten oder die richtigen Antworten nicht in das Bild der „heilen Familie“ gepasst, den Ruf der Familie ruiniert hätte, all das kommt beim Lesen wieder hoch. Nur ist man, bin ich heute kein Opfer mehr, sondern Überlebende/r, so wie sich Michael Reh lieber bezeichnet.

Michael Reh, Katharsis, Drama einer Familie, acabus Verlag, Hamburg 2020, 388 S., ISBN 978-3-86282-745-9

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