Mit Kafka auf der Suche nach den passenden Lebens-Mitteln
Angeregt durch Anmerkungen in Alice Millers „Die Revolte des Körpers“ habe ich die vier Kafka Erzählungen gelesen, die unter dem Titel „Ein Hungerkünstler“ zusammengefasst sind. Vier – scheinbar sehr verschiedene – Menschen , ein Trapezkünstler, „eine kleine Frau“, ein Hungerkünstler“ und „Josefine, die Sängerin“ leiden mehr oder weniger bewusst oder unbewusst unter ihrer Art zu leben.
Das Streben nach Vollkommenheit in der Ausübung seiner Kunst lässt den Trapezkünstler Tag und Nacht, also 24 Stunden, auf seinem Trapez bleiben. Isoliert von allen anderen, gerät er außer sich, wenn der Zirkus seine Zelte abbricht und er nicht in der Zirkuskuppel bleiben kann.
Die kleine Frau scheint nur Ärger, den „alten und immer neuen“ Ärger, als Antriebsfeder zu kennen, für den sie den Erzähler verantwortlich macht, der aber in keiner Beziehung zu ihr steht, sich dann aber irgendwann für ihr Wohlbefinden verantwortlich fühlt und nach Lösungen sucht, wohl wissend, dass er nicht verantwortlich und ihr letztendlich auch nicht zu helfen ist. Denn: wer oder was wäre sie ohne ihren Ärger?
Der Hungerkünstler ist Hungerkünstler von Beruf, auch dann noch, als seine Kunst nicht mehr gefragt ist. Er kann einfach nichts anderes. So hungert er sich folgerichtig zu Tode, von allen unbeachtet und wird irgendwann entsorgt, nicht ohne einem Aufseher auf dessen Frage, warum er hungere und dafür bewundert und gleichzeitig nicht bewundert werden wolle, noch ins Ohr geflüstert zu haben:
“ Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders. … weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“
Josefine ist Sängerin oder glaubt Sängerin zu sein, die von allen im Volk bedingungslose Hingabe und Anerkennung fordert. Ist das nicht der Fall, so wie sie sich diese Aner-kennung vorstellt, „dann freilich wird sie wütend, dann stampft sie mit den Füßen, flucht ganz unmädchenhaft, ja sie beißt sogar.“ Schmeichler versuchen es ihr recht zu machen und sie nicht spüren zu lassen, dass die Aner-kennung des Volkes nicht bedingungslos ist, ihr Verhalten zum Lachen über sie Anlass gibt, auch wenn dann doch niemand lacht. Wer hier für wen sorgt, Josefine für das Volk oder das Volk für Josefine, ist nur schwer er-kennbar. Josefines Wahrnehmung dieses Volkes und ihrer Stellung in ihm entspricht jedenfalls aus der Perspektive des Erzählers nicht der Realität. Irgendwann ist sie einfach vergessen, ein Nichts, ein Niemand.
Alle vier sind tragische Figuren, die jede auf ihre Art und Weise nicht die Nahrung findet, die zu ihr passt und daran zugrunde geht, wobei der Hungerkünstler auch heute noch als Beschreibung von Magersüchtigen herhal-ten könnte, die gleichzeitig auf sich aufmerksam machen und es dann doch nicht aushalten, gesehen bzw. nicht ihren Vorstellungen entsprechend gesehen und anerkannt zu werden.
Viele Stellen sind auch darüberhinaus sehr aktuell, wie man beim Lesen dieser unglaublich genau beobachteten und sprachlich sehr diffizil gestalteten Erzählungen feststellen kann, die trotz des Tragischen ihrer Helden zum Lachen und Nachdenken reizen, wie man es denn selbst mit seinem Ärger, der Anerkennung durch andere und seinem Hang zur Vervollkommnung oder sollte man eher sagen zum Perfektionismus hält, dem Hunger nach der passenden Nahrung. Also: mit Kafka viel Spaß beim Lesen, Suchen, Finden und der Auswahl der richtigen Lebens-Mittel!
Franz Kafka, Ein Hungerkünstler, S. 879-912 in: Franz Kafka, Sämtliche Werke, Frankfurt/M 2008, 1463 S. ISBN 978-3-518-42001-0
2 Gedanken zu „Mit Kafka auf der Suche nach den passenden Lebens-Mitteln“
Über Dein intensives Studium dieser Texte staune ich! Und Lachen mit Kafka, das konnte ich mir nie vorstellen. Werde dem nachgehen….
Wildgans, kannst mich ja nach der Lektüre wissen lassen, ob/ wie sie dir gefallen haben (die erste hat mir nicht so gefallen, die anderen drei schon)