Peggy Mädler, Wohin wir gehen

Peggy Mädler, Wohin wir gehen

„Wohin wir gehen“ erzählt in mosaikartigen Bildern, leise, still, den Leser stets nötigend, zwischen den Zeilen zu lesen – von den verwirrenden, oft verzweigten Wegen zweier „Freundinnenpaare verschiedener Generationen“ durch verschiedene soziale Systeme, geprägt von schwierigen politischen Umwälzungen im 20 Jahrhundert.

Chronologisch, aber im Wechsel, erhält der Leser Einblick in das Alltagsleben dieser Freundinnen, das in hohem Maße geprägt ist durch die politischen Wirren und Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Tschechien, der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR, und im zunächst noch geteilten Berlin. Dies hat mehrfach erzwungene Abschiede zur Folge, aber auch freiwillige, politisch motivierte und berufsbedingten Abschiede, die bis in die Schweiz führen und Freundschaften nur noch unter erschwerten Bedingungen, nämlich über große Distanzen, möglich macht.

Die Kapitelüberschriften sind Städtenamen und kennzeichnen den Weg der Freundinnen:
Berlin (I), Brno/Brünn, Reichenberg/Liberec, Pirna, Kirchmöser, Berlin (II), Irgendwo (in Brandenburg), Magdeburg, Berlin (III), Hamburg/Rom/Balaton/New York, Basel.
Sie werden eingerahmt von den Kapiteln „Ziehende Landschaften“, in Anlehnung an das entsprechende Gedicht von Hilde Domin, dessen erste vier Verse dem Roman wie ein Motto vorangestellt ist:
Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bleibe die wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Ob und wie das möglich ist: Weggehen und doch bleiben, davon erzählt Peggy Mädler in diesem Roman. Es ist ein Weg voller Abschiede, die Entwurzelungen, Entfremdungen, Entbehrungen, Heimatlosigkeit mit entsprechenden Gefühlen zur Folge haben, vor allem dann, wenn man als Umsiedler mit Hass als Reaktion von Zwangsunterbringungen empfangen wird:

„Die ersten Wochen und Monate warten schlimm und die ersten Wochen und Monate gingen vorbei. Der Tag, an dem sie ein Zug nach Deutschland brachte, war schlimm, und dieser Tag ging vorbei. Weihnachten war wieder schlimm. Dreh dich nicht um, schau nach vorn. Auf eine schlimme Nacht folgt der nächste Tag. … Zuhause, wie fremd das klingt, wenn niemand mehr da ist, den man kennt.“

Wie umgehen mit Einsamkeit, Heimweh, dem Gefühl von Fremdheit? Sie alle müssen ihren eigenen Weg finden: Da treffen dann bürgerlich, sentimentale auf sozialistisch, gesellschaftlich korrekte Umgangsweisen:

Es gibt schon zu viele, die ihr Heimweh auf eine private, sentimentale Weise pflegen. Die sich sogleich zusammenrotten und miteinander verkriechen wollen, sobald sie bei irgendjemandem den gleichen Dialekt erkannt haben. Diese Sentimentalität gilt es zu überwinden. Der Krieg war kein Versehen! Schluss also mit diesem rückwärts gewandten Jammerton, mit dieser Neigung zum Selbstbedauern, anstatt das Neue anzupacken. Und so werden dann „alle gleichermaßen gezwungen, sich in die neue sozialistische Gesellschaft zu integrieren.“

Und wo bleiben die, die das nicht wollen, können? Denen bleibt eigentlich nichts anderes übrig als die schon während der Schulzeit in den vierziger Jahren gemachte Erfahrung und Einstellung:
Nicht offen reden, nicht auffallen, ruhig sein, sich seinen Teil denken, sich gegen den Strich bürsten, nicht zu viel erzählen, am besten gar nichts erzählen.“

Der Roman macht einmal mehr deutlich, wie traumatische Erfahrungen über Generationen hinweg weitergegeben werden, Verhaltensweisen sich manifestieren, ohne die einmal vorhandenen Gründe zu kennen und nachvollziehen zu können. Da ziehen sich Kinder vor den sich stets Sorgen machenden Eltern, vor allem Müttern, zurück, weil sie sich eingeengt fühlen, was wiederum die Eltern, „die ja doch nur das Beste“ für ihr Kinder wollen, nicht verstehen können. Doch sie haben oft einfach aufgrund ihrer unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen und Erlebnisse nicht erkannt, dass sich die Zeiten geändert haben und ihre Denk- und Verhaltensweisen damit wahrscheinlich auch überholt sind. Aber: Wo nicht miteinander geredet wird, kann auch kein Verständnis für den anderen entstehen.

„Wohin wir gehen“ ist ein sehr dichter, vielschichtiger, in einfachen Sätzen erzählter Roman mit Tiefgang und Überblick. Lesenswert, aber speziell.

Peggy Mädler, Wohin wir gehen, Roman. Galiani Verlag, Berlin 2019, 219 S., ISBN 978-3-86971-186-7

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