Thomas Blubacher, Das Haus am Waldsängerpfad

Thomas Blubacher, Das Haus am Waldsängerpfad

Im Berliner Ortsteil Nikolassee kann man auch heute noch das 1929 von Peter Behrens erbaute Haus besichtigen, dass Kurt Lewin und seine Frau Gertrud haben erbauen lassen. Es steht am Waldsängerpfad und war schon damals ein Hingucker, an dem sich die Geister scheiden konnten:

„Wer jedoch durch den Waldsängerpfad flaniert, eine gut dreihundert Meter lange, idyllische Wohnstraße zwischen Reifträgerweg und Krottnaurerstraße, mit Kopfsteinpflaster belegt und von schattenspendenden Kastanienbäumen gesäumt, steht unvermutet vor einem asymmetrisch proportionierten, weiß verputzte Ziegelbau, bestaunt ineinander verzahnte Kuben, flache Betondächer und fassadenbündig eingesetzte Stahlfenster. 1929 konsequent in der sachlichen Formansprache des Neuen Bauens entworfen vom Werkbunddesigner Peter Behrens für den Psychologen Kurt Lewin und dessen Frau Gertrud, verkörpert er damals den neuen Lebensstil eines liberal eingestellten jüdischen Bürgertums und erscheint im Rückblick geradezu als ‚Gegenentwurf zu der kommenden braunen Zeit.‘ „

Mit diesem Haus verbunden ist das Schicksal zweier jüdischer Familien: das der Familie Lewin, die 1933 nach einer Gastprofessur Kurt Lewins in den USA nicht wieder in das Haus zurückkehrt, und das der Familie des jüdischen Schauspielers, Regisseurs, und Intendanten Fritz Wisten und seiner Frau Trude, die mit ihren Töchtern Susanne und Eva dort einzieht, als Fritz Wisten in Stuttgart wegen seiner jüdische Abstammung gekündigt wird.

Am Beispiel der Familie Wisten werden die sich zunehmend verschärfenden Auswirkungen der Naziherrschaft mit ihrem erklärten Ziel des Ausschlusses der Juden aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens bis hin zur vollständigen Judenvernichtung deutlich. Schritt für Schritt schrumpfen seine beruflichen Möglichkeiten, die von Blubacher ausführlich, mit großen Detailkenntnissen geschildert werden.

Fritz Wisten hatte noch den Vorteil einer „privilegierten Mischehe“, die ihn ein wenig geringer gefährdete als „Volljuden“, zumal seine Frau alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzte, damit ihnen z.B. das Haus und auch ihre noch verbliebenen Häuser in Stuttgart nicht enteignet werden konnte. Wisten musste auch keinen Judenstern tragen. In einem Bewerbungsschreiben an Gustav Gründgens führt er an:

“ ‚Ich darf aber darauf hinweisen, dass ich beispielsweise – infolge meiner ‚privilegierten Ehe‘ – der besonderen Kennzeichnungspflicht … enthoben bin, sodass meiner Einordnung in welchen Betrieb auch immer kaum Schwierigkeiten entgegenstünden.‘ Das Schreiben bleibt ohne Antwort, eine Anstellung des Juden Fritz Wisten ist ausgeschlossen.

Auch die Begrenzungen im Ortsteil nehmen zu, denn immer mehr Naziänhänger und -größen ziehen nach Nikolassee.

„Tür an Tür lebten in Nikolassee Spitzen des NS-Staates und von ihnen Verfolgte, stille Helfer und „brave Natonalsozialisten“, wie sie Susanne Wisten, die Tochter, nannte.

Die Gefahr der Denunziation wächst mit zunehmender Dauer des Hitlerregimes und damit auch die Möglichkeiten einer Kriminalisierung, die den Schutz vor einer Deportation, den eine „privilegierte Ehe“ bieten konnte, aufheben würde. Alle Versuche, ins Ausland zu emigrieren, scheitern und so geht es letztendlich nur noch darum zu überleben.

„Trotz nationalsozialistischer Bedrängnis boten Fritz und Trude Wisten verfolgten Juden Zuflucht.“ Diesen Satz kann man noch heute auf einer Gedenktafel am Treppenaufgang des Hauses lesen. Für den ein oder anderen war ihr Haus eines ihrer „Flitzquartiere“, mache bleiben länger mit dem Problem, genügend Lebensmittel zur alle zur Verfügung zu haben, kaum möglich bei der herrschenden Lebensmittelrationierung. Doch auch da gibt es „stille Helfer“ – nur Vorräte konnten durften nicht entdeckt werden.

Alle Mitglieder der Familie Wisten haben überlebt, konnten auch die Befreiung der Russen mit allen möglichen Gefahren, vor allem für die weibliche Bevölkerung, überstehen und Fritz Wisten hatte, zwar mit diversen Schwierigkeiten, später auch wieder die Chance als Schauspieler, Intendant und Regisseur zu arbeiten. Dass er in die SED eingetreten ist, erfährt man quasi in einem Nebensatz. Ein wenig verwunderlich, neigt doch Thomas Blubacher sonst zu übergenauer Dokumentation.

Thomas Blubacher ist als promovierter Theaterwissenschaftler sicher ein genauer Kenner der Kultur- vor allem der Theaterszene der damaligen Zeit. Ein herausragender Erzähler ist er meines Erachtens nicht. Sein oft verschachtelter, mit vielen Einschüben, Appositionen gespickter Satzbau gefährdet das Erkennen der Geschichte dieser Familie, die unter dem Detailreichtum zu verschwinden droht. Über 600 Anmerkungen im Anhang zeugen von seiner akribischen, eher wissenschaftlichen denn schriftstellerischen Arbeitsweise.

Dennoch ist das Buch ein lesenswertes, u.a. auch das Bewusstmachen, dass nicht nur Kunst, Literatur, Musik, sondern auch Architektur als „entartet“ gelten konnte. Die Wohn- und Arbeitssituation im später dann geteilten Berlin ist dann auch ein besonderes Porträt des damaligen Berlins. Auf jeden Fall erzählenswert.

Thomas Blubacher, Das Haus am Waldsängerpfad. Wie Fritz Wistens Familie in Berlin die NS-Zeit überlebte, Berenberg Verlag, Berlin 2020, 190 S., ISBN 978-3-946334-79-8

4 Gedanken zu „Thomas Blubacher, Das Haus am Waldsängerpfad

  1. Mich interessiert eigentlich (fast) alles, was mit Menschen zu tun hat, die während dieser grauenhaften Zeit gelebt haben.
    Warum genau das so ist, das weiß ich selbst nicht.
    Liebe Grüße

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