Thomas Meyer, Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse
Mordechai Wolkenbruch, genannt Motti, ist ein 25 Jahre alter schweizer Jude, der noch bei seinen Eltern lebt. Zum einen arbeitet er in der Versicherungsagentur seines Vaters, zum anderen studiert er an der Züricher Universität Wirtschaftswissenschaften. Dort sieht er Laura, eine Kommilitonin, die ihn außerordentlich fasziniert.
Das ist ihm aber nicht erlaubt, da er als Jude mit keiner „Schickse“ anbandeln darf. Selbst das Hinsehen auf ihren attraktiven Hintern ist bereits ein Tabubruch. Motti gerät zunehmend in die Bedrouille, zumal seine Mutter aktiv daran arbeitet, dass er – möglichst bald – eine Jüdin heiratet.
Auf der Heimfahrt von einer dieser Heiratsvermittlungsterminen hat er mit seiner Mutter einen Autounfall, bei dem seine Brille zerbricht. Er braucht eine neue. Kein Problem.
Kein Problem? Doch, denn er findet beim jüdischen Optiker, bei dem alle Juden traditionell ihre Brillen kaufen, nur das Modell, das er schon hat. Und das will er nicht mehr. Also geht er in einen anderen Brillenladen, kauft sich eine modische Brille und beginnt wenig später seinen Bart zu stutzen.
„Ungläubig fuhren meine Hände über die fast nackten Wangen. Es fühlte sich gut an.
Im Waschbecken lag, mit leichtem Rotschimmer und rund um den Abflussstöpsel verteilt, die abgeschlagene Tradition.
WAS HAT DU GETAN! schrillte da die schtim meIner mame in meinem kop, vervielfältigt durch tojsnt weitere jiddische schtimen quer durch die Jahrtausende hindurch; DU BIST DER MERDER DER JIDDISCHKAIJT! DER MERDER!“
(COPYRIGHT Samuel Glättli, Büchergilde Gutenberg)
So beginnt er, den „scharf gezogenen Pfad“ eines Juden zu verlassen:
„er wird geboren und beschnitten, besucht den jüdischen Kindergarten, wird bar-mizwe, hält jeden frajtik-uwnt ein schabbes-Essen ab und geht in die schul; er feiert roscheschone, jom-kipur, sukes, chanike und pajsech, lässt sich von der mame frojen vorsetzen, sagt irgendwann erschöpft zu einer Ja, führt si unter die chuppe, macht mit ihr viele kleine jidn, feiert eines fernen, leisen toges seine letze chanike, wird wenig schpejter von seiner mischpuche zu Grabe getragen und erhält ein jor drauf einen stolzen Stein, auf welchem nicht nur sein Name steht, sondern auch jener seines Vaters, und schließlich findet sich drauf noch die Abkürzung eines Verses aus dem ersten Buch Samuel, wo es heißt: ‚Möge meine Seele eingebündelt sein im Bündel des ewigen Lebens‘; und seine Seele wird eingebündelt.
Asoj ist der Fahrplan. Und es gibt nichts, was den jid veranlassen würde, diesen Pfad zu verlassen zugunsten von einem, den er plötzlich selbst zeichnen würde. Denn es ist der Schöpfer, der die Lebenswege bestimmt, und nicht das Geschöpf.“
Doch ihm begegnen immer wieder auch Juden, die ihn darin bestärken, seinen eigengen (jüdischen) Weg zu gehen und herauszufinden, was er möchte, wo er sein Glück findet. Und Motti macht sich auf den Weg und sieht sich mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert und hat keine Ahnung, wie er damit fertig werden kann. Denn auf ein solches Leben ist er überhaupt nicht vorbereitet. Es war einfach für ihn nicht vorgesehen.
„Es hätte ganz simpel sein können. Schön unkompliziert. Alles schön schwarz-weiß. Schwarze hojsn, weißes Hemd. aber nein, ich musst mir ja von einer schikse das harz rauben lassen.“
„Wolkenbruchs wunderliche Reise“ ist ein wunderbarer Roman über das Erwachsenwerden eines jungen Mannes im allgemeinen und eines traditionell erzogenen jüdischen Mannes im besonderen. Der Autor hält „die Balance zwischen Humor und Tragik, Leichtigkeit und Schwere, Enge und Freiheit“ schreibt Samuel Glättli in seiner Nachbemerkung zu seinen Illustrationen dieses Romans, die den Roman wirklich zu etwas ganz Besonderem machen.
Zwar muss man sich schon ein wenig in den mit vielen jiddische Worten gespickten Text einlesen. Doch der Autor gibt folgenden, hilfreichen Hinweis:
„Falls Ihnen ein jiddisches Wort unverständlich ist, lesen Sie es laut. Falls das nicht hilft. Am Schluss des Bandes gibt es ein Glossar.“
Mit der Zeit liest man sich ein und muss nur noch ab und zu ins Glossar schauen. Sehr erstaunt habe ich zur Kenntnis genommen, wieviele Worte und Redewendungen ich – zum Teil in kleinen Abwandlungen – aus meiner Kindheit kenne.
Mir hat das Lesen in vielerlei Hinsicht sehr viel Freude gemacht, auch wenn schmerzliche Erinnerungen an meine eigenen Adoleszenz „hochgeploppt“ sind, denn auch ich habe den mir als Frau vorgesehenen Weg verlassen und mich nicht an das gehalten, was meine Eltern als das für mich Richtige angesehen haben.
Thomas Meyer, Wolkenbuchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse. Mit Illustrationen von Samuel Glättli, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/M. 2019, 255S., ISBN 978-3-7632-7034-7