Lydia Tschukowskaja, Untertauchen

Lydia Tschukowskaja, Untertauchen

Der Roman „Untertauchen“ erzählt vom Kuraufenthalt Nina Sergejewnas, einer alleinerziehenden Schriftstellerin aus Moskau, in einem Sanatorium nur für Schriftsteller, einer schönen hellen, warmen, abgekapselten Welt, zu der das Pesonal zur zum Bedienen Zutritt hat. Nicht einmal Bücher aus der Bibliothek dürfen sie Ausleihen.

Nina freut sich darauf, „in der Stille arbeiten“ zu können. „Zwischen diesen fremden Wänden kann ich zu mir kommen, mir selbst gegenübertreten.
Aber offenbar steht mir keine ganz einfache Begegnung vor, denn von Anfang an versuche ich, ihr auszuweichen.“

Sie kapselt sich zunächst von den anderen ab und verweilt allein in der umliegenden Natur mit ihren Birkenwäldern und Tannen, die ihr wie menschliche Wesen erscheinen: „Die Birken tanzten Reigen um die Tanne, wie kleine festlich gekleidete Mädchen. Ihr ganzes Leben lang feiern sie Weihnachten.“

Hier beginnt sie, nachdem sie sich versichert hat, dass sie allein ist, „Gedichte zu sprechen, die Laute an diesen Birken, an diesem unbeständigen Schnee auszuprobieren.“ Und sie fühlt sich in den Versen von Puschkin, Pasternak, Nekrasow und Achmatowa zu Hause.

„Alle Worte sind auf dieser Erde gewachsen und strecken sich zum Himmel wie diese Birken. Beim Lesen spürte ich nicht nur den Reiz der Gedichte, sondern auch ihre Überfülle und Freude an sich selbst. Die Lippen waren glücklich den Worten, die Worte den Lippen zu begegnen.“

Menschen sind dafür nicht oder nur sehr bedingt geeignet, denn ihre Dichter sind verbotene Dichter, die zu lesen gefährlich ist. Und dennoch ist Nina – auch aks Schriftstellerin und Übersetzerin – auf der Suche nach „Verstehenden“, nach „Bruderschaft“ wie sie es nennt. Dazu müsste sie aus ihrer Deckung kommen, auftauchen und mit anderen reden und herausfinden, was sie von ihren Gedanken, Überlegungen preisgeben kann.

Da ist Weksler, ein jüdischer Dichter, der ihre Nähe sucht, als er Ninas Liebe zur Poesie erahnt. Er entschliesst sich zu einer Mutprobe: „einem Fremden von sich zu erzählen.“
„Er las jiddisch. Die Sprache, die ich immer als hässlich empfunden habe, klang bei diesem Vorlesen sehr schön, wie vermutlich jede Sprache, die man nicht als Chaos, sondern in seiner Ordnung erlebt“. Und wie schrecklich muten die Übersetzungen ins Russische an, die das Wesen, die Stille, die Hoffnung und Verzweiflung nicht transportieren können. Übrig bleiben „nichts als holprige Verse. Bloße Worte, mit Gewalt in einen Rhythmus eingezwängt.“
Und doch wird Weksler während Ninas Aufenthalt in der Nacht – lautlos, dennoch nicht unbemerkt – abgeholt.

Zwischen Nina und Bilibin, einem herzkrankren Schriftsteller, entsteht in Gesprächen allmählich eine zarte Basis von Verstehen und Vertrauen. Als Nina erfährt, dass Bilibin Lagererfahrung hat, hofft sie, von ihm etwas über ihren verhafteten und seitdem verschollenen Mann und über dessen Tod zu erfahren. Sie sieht in ihm einen, der ebenfalls in traumatische Erfahrungen der Vergangenheit „untertaucht“ und von diesen Erfahrungen auch in seinem Buch schreibt, dass er im Sanatorium zu Ende bringen will.

Die Lektüre dieses Romans veranlasst Nina allerdings, die Beziehung zu Biblin sofort abzubrechen.

Es ist ein berührender, poetischer Roman, nicht nur über das Schriftstellerdasein im Russland des letzen Jahrhunderts, denn die Situation der Bevölkerung, die Angst, in der sie um sich selbst und ihre verschleppten Angehörigen leben, wird ebenso spürbar wie die Auswirkungen von Pressezensur und Erziehung als Propagandamittel.

Der Roman, bereits 1937 entstanden, durfte in in Russland erst 1988 erscheinen. 1974 wurde Lydia Tschukowskaja aus dem Sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Ihre Rede vor diesem Verband beendet sie mit folgenden Sätzen:

„Was werden die Ausgeschlossenen tun? Bücher schreiben. Sogar Gefangene haben Bücher geschrieben und schreiben Bücher. Und was werden Sie schreiben? Resolutionen. Schreiben Sie.“

„Untertauchen“ ist ein sehr dichtes, leises und gleichzeitig mutiges und lautes Buch. Auf jeden Fall ein Buch, dem ich viele aufmerksame Leser wünsche, die sich auf die feinsinnige (Wort-) Welt dieses Romans einlassen und die leinengebundene Ausgabe – wie stets – mit farblich passendem Leseband zu schätzen wissen.

Lydia Tschukowskaja, Untertauchen, Deutsch v. Swetlana Geier, Dörlemann Verlag Zürich 2015, 244 S., mit der Rede vor dem Sowjwtischen Schriftstellerverband und einem Nachwort v. Hans-Jürgen Balms, ISBN 978-3-908778-63-9

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