Hanns Zischler, Der zerrissene Brief

Hanns Zischler, Der zerrissene Brief

Der Roman beginnt aus der Ich-Perspektive Elsas zu erzählen, einer jungen Frau, die gerade eine unglückliche Affäre mit einem verheirateten Mann hinter sich hat, und nach Jahren wieder Kontakt zu Pauline aufnimmt, einer inzwischen über achtzigjährigen Frau, die sie in der Nachkriegszeit aufgenommen und „per Brief adoptiert“ hat.

Paulines Angebot, sie doch zu besuchen, ergreift Elsa „wie einen Rettungsring“. Pauline ist diejenige, mit der sich Elsa per Brief ausgetauscht hat, der sie vieles erzählen und anvertrauen konnte. Denn Pauline konnte zum einen gut zuhören und sie hatte „eine sehr eigene Art, ihre Gedanken auf Worte zu fädeln.“

„Ich habe ihr mehr als irgendeinem Menschen von mir erzählt. Sie hat mir von ihren Spaziergängen, dem Theater der Jahreszeiten und von ihren alltäglichen Begegnungen geschrieben. Alles war erfüllt von ihrem gegenwärtigen Erleben, nie war von ihrer Vergangenheit die Rede.“

Das ändert sich bei ihrem letzten Besuch. Da beginnt Pauline von Max Lassenius, ihrem Mann, ihrem „Plusquamperfekt“, zu erzählen. Er war erheblich älter als sie, äußerst reiselustig, von seinem „Raumhunger“ getrieben, wohl auch, um sich aus dem Würgegriff seiner „Efeumutter“ zu befreien. Ganz allmählich entwickelt sich im Dialog zwischen Pauline und Elsa – in bruchstückhaften Episoden, oft ausgelöst durch Gegenstände wie Bilder, Masken, die Max gesammelt hat, Briefe, Aufzeichnungen der beiden – das ungewöhnliche Leben von Max und Pauline mit dem Fokus auf Pauline, von der es schon zu Beginn des Romans heißt:

„Pauline war nicht wie die Leute im Dorf. Nie hat sie über Krankheiten, Beerdigungen oder irgendeinen trübseligen Familienkram geredet. Sie mochte keinen Tratsch. Sie war viele Jahrzehnte im Ausland gewesen und hatte keine Kinder. Sie wirkte auf mich wie ein frischer Wind aus einer anderen Welt.“

Pauline wirkt beim Sprechen öfter abwesend, in ihre Gedanken, Erinnerungen versunken, so als tauche sie in ihre Vergangenheit ein, die sich ihr eher assoziativ erschließt. An manches erinnert sie sich sehr klar, manches kann sie nicht mehr bergen. Elsa bezeichnet es liebevoll als Paulines „Eisschmelze der Erinnerung“.

Zum Abschied schenkt Pauline Elsa „einen Packen Briefe, Photos und ihre gemeinsamen Reisejournale. Die Photos waren alles andere als Amateuraufnahmen. Nachdem ich ihre Aufzeichnungen einmal in Ruhe gelesen hatte, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus – hier war eine Schriftstellerin am Werk! Meine Begeisterung quittierte sie mit der lakonischen Bemerkung: ‚Dann war nicht alles vergebens.‘ „

Zischler ist ein leiser Roman über die ungewöhnliche Liebe und das ungewöhnliche Leben einer mutigen, vertrauensvollen Frau gelungen, die sich in ihrer Liebe zu ihrem Mann, trotz allerWidrigkeiten, nicht hat beirren lassen, die dennoch ein weitgehend individuelles Leben gelebt hat. Von ihr kann man zudem lernen, was es ausmacht, im Hier und Jetzt zu leben. Sie verabschiedet sich von Elsa schon am Abend vor deren Abreise, weil sie beabsichtigt, noch im Morgengrauen aufzubrechen:

„Dort setze ich mich auf eine Bank und warte bis mit den Morgenvögeln die Farben erwachen. …
– Ich genieße jeden Augenblick. Er ist kostbar, weil er vergänglich ist. Das ist für mich die irdische Unsterblichkeit.
– Betrübt dich das nicht auch?
– Nein, im Gegenteil, ich erlebe diese Stunde als das größte Glück, eben weil es vergänglich ist. Dass diese Augenblicke vergehen, und ich vermutlich sehr bald nicht mehr dorthin gehen kann, macht sie so wertvoll.“

Auf ihrem Grabstein wird ein Goethe Satz stehen:
„Wer sich vorm Tode fürchtet, der geht nicht auf Reisen.“
Sie hat sich bereits als junge Frau auf den Weg nach Amerika gemacht und dort zwei Jahre lang gelebt. Max hat ihr diese Reise „verordnet.“ Und sie hat sich dieser Verordnung gefügt. Später haben sie dann gemeinsam die Welt bereist.

In dem Roman begegnet man längst vergangenen Welten und ihren Wörtern: Da ist noch von „Landstreichern“, „Kartoffelfeuern“, „Galanen“, „Morsezeichen“, „Chausseen“, „Fuhrwerken“, „Einspännern“, „Griffeln“ und „Schiefertafeln“ … die Rede. Die Menschen „genieren“ sich noch.
Begriffe, die beim Lesen eigene Erinnerungen hochkommen lassen, denen man nachgehen kann – das ist ja das Schöne am Lesen, man kann jederzeit aufhören und weiterlesen, wenn’s passend ist. Ich habe schon ein wenig Zeit gebraucht, mich einzulesen, doch es lohnt sich dranzubleiben. Ein lesenswerter Roman!

Hanns Zischler, Der zerrissene Brief, Roman, Galiani Verlag, Berlin 2020, 269 S., ISBN 978-3-869-71207-9


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