Nadia Owusu, Über Erschütterungen und Identitätssuche

Nadia Owusu, Über Erschütterungen und Identitätssuche

Der Titel trifft den Inhalt dieses Buches „auf den Kopf“. Nadia erzählt über ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – bewegtes Leben:
„Orte faszinierten mich, weil es noch nie einen Ort gegeben hatte, der zu mir gehörte, geschweige denn, dass ich an einen Ort gehörte.“

Als Kind eines ghanaischen Vaters und einer Mutter mit armenischen Wurzeln ist es für sie schon schwierig, sich in den unterschiedlichen Kulturen und Sprachen zurechtzufinden. Hinzu kommt, dass ihr Vater als Beamter der Vereinten Nationen ständig neue Arbeitsplätze auf unterschiedlichen Kontinenten zugewiesen bekommt, ihre Mutter die Familie verlässt, als Nadia erst zwei Jahre alt ist und sie bei Verwandten in England zur Schule gehen muss.
Später erkrankt der Vater, mit dem sie als einziger Konstante in ihrem Leben sehr verbunden ist, an Krebs. Nach seinem Tod muss sie bei ihrer Stiefmutter bleiben, die sich beide nicht wirklich ausstehen können.

Die verschiedenen Orte bedeuten immer wieder ein neues Zuhause, stets unklar, wie lange es ein Zuhause sein wird, verbunden mit verschiedenen Sprachen, Kulturen und unterschiedlichem Umgang mit Black Peoples. Mal gehört sie zu den Privilegierten, ausgestattet mit Dienstpersonal und Sicherheitskräften, dann wiederum – in der englischen Schule – zu den Minderheiten, die gemobbt, missachtet werden, wo sie darum kämpfen muss, irgendwie dazuzugehören oder zumindest nicht vollständig ausgegrenzt zu werden.

Nach ihrem Schulabschluss lebt Nadia in New York: elternlos, heimatlos, ziemlich verunsichert, wer sie nun eigentlich ist. Ein blauer Schaukelstuhl, den sie auf der Straße gefunden hat, wird zu ihrem Rückzugsort, an dem sie versucht, die Bruchstücke ihrer Identität zusammenzufügen. Eine für diesen Prozess passende Metapher ist die Katastrophe:

„Ich habe in Katastrophen gelebt und Katastrophen haben in mir gelebt. Körper und Umgebung im Einklang. Unsere gemeinsame Sprache sind Donner und Nachhall.
Mein Geist hat einen eigenen Seismografen. Seine Aufgaben sind Übersetzen und Kalibrieren. Außerdem die Meldung von Notfällen. … Die Gezeichneten und Gebrochenen sind mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Sie haben nur bedingt Zeit für Abstraktion.“

Ihre speziellen Metapher für ihre erlebten Katastrophen ist das Erdbeben in all seinen Phasen, die ihr auch helfen, das Erlebte zu strukturieren in: in Vorbeben, Topografie, Verwerfungen, Haupt- und Nachbeben, immer wieder unterbrochen durch ihren Sicherheitsort, den des blauen Schaukelstuhls.

„Über Erschütterungen und Identitätssuche“ ist keine leichte, keine einfache Lektüre, aber eine wichtige, die zum Verständnis beitragen könnte, was Menschen leisten müssen, wenn sie in unterschiedlichen Nationen, Kulturen aufwachsen und in ihren eigenen Familien keinen Halt, keine Geborgenheit und Sicherheit finden. Mancher wäre daran zerbrochen.

Nadia Owusu, Über Erschütterungen und Identitätssuche. A.d. Engl. v. Lisa Kögeböhn, Orlanda Verlag Berlin 2023, 383 S., ISBN 978-3-949545-16-0

6 Gedanken zu „Nadia Owusu, Über Erschütterungen und Identitätssuche

  1. Oh, das tönt sehr spannend und ist sicher eine bewegende Lektüre.
    Herzlichen Dank für die schöne Besprechung und liebe Grüsse in den 1. Oktobersonntag,
    Brigitte

  2. Gern. Es ist keine einfache, aber eine lohnende Lektüre, die einen auch immer wieder die eigenen Einstellungen überprüfen lässt und mich Staunen gemacht hat, wie wenig selbstverständlich es ist, einfach als Mensch gesehen und wahrgenommen zu werden, welche Ausgrenzungskriterien es gibt.
    Wünsche dir auch einen erholsamen Oktobersonntag. Ich setze mich gleich in eine sonnige Gartenecke – mit neuer Letüre ;)

  3. Klingt definitiv nach starkem Inhalt, auch die Übersetzung scheint sehr geglückt zu sein, zumindest legt mir dies Deine Stelle aus dem Buch nahe.
    Menschen müssen sehr viel leisten, wenn sie in dieser Weise aufwachsen. Ich habe viele junge Menschen getroffen, die sich diesen Herausforderungen stellen müssen, hinausgespült aus ihren Heimatländern, in die sie vielleicht nie mehr zurückkehren. Zerbrechlichkeit ist da eine große Gefahr und die, die auffangen können, haben viel zu tun.
    Da wünsche ich eine weitere spannende Lektüre!
    Herzliche Grüße

    1. Die Lektüre ist beendet, jetzt geht’s vielleicht darum, noch sensibler Menschen zu begegnen. Wer weiß, welche Erfahrungen sie in ihrem „Rucksack“ tragen.
      Herzliche Grüße

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