
Thomas Schlesser, Monas Augen

„Alles wurde dunkel. Wie mit einem Trauerflor bedeckt. Dann hier und da ein Aufblitzen nach Art der Flecken, die die Sonne verursacht, wenn die Augen hinter geschlossenen Lidern vergeblich auf sie starren, so wie man die Faust ballt, um einen Schmerz oder ein Gefühl auszuhalten. …
‚Mama, alles ist dunkel!‘
Mona war blind.
Dafür schien es keinen Grund zu geben.“
Diese Blindheit ist vorübergehend, sie dauert genau dreiundsechzig Minuten. Dann kann Mona wieder sehen. Sämtliche medizinische Untersuchungen ergeben keinen Hinweis auf körperliche Ursachen für diese vorübergehende Blindheit.
Der behandelnde Arzt schlägt den Eltern eine Hypnosebehandlung Monas vor, um mit ihr an den Moment zu gelangen, als diese Blindheit eintrat. Paul, Monas Vater, lehnt eine solche Behandlung rundweg ab, Camille, Monas Mutter, äußert sich gar nicht dazu.
Der Arzt fordert die Eltern allerdings auf, genau auf Monas „subjektive Symptome“, also ihre Empfindungen zu achten und schlägt zusätzlich vor, mit Mona zu einem Kinderpsychiater zu gehen.
Einen guten Psychiater zu finden, diese Aufgabe delegieren die Eltern an Henry, Monas Großvater, einen ehemaligen Fotoreporter der französischen Nachrichtenagentur AFP, der auf das „Schöne auf der Welt schwor“, trotz oder gerade wegen der Grauen, die er als Kriegsreporter am eigenen Körper erlebt hat. Mona mag und verehrt ihn:
„Sie liebte diesen Großvater mit all seinen Lebensjahren und seiner Kraft. Und sie beobachtete gern, wie er die Menschen, die ihm begegneten, mit seiner wuchtigen Gestalt und seiner schweren, fast quadratischen Brille bezauberte.“
Statt einen Kinderpsychiater zu suchen, geht er mit seiner Enkelin ein Jahr lang einmal wöchentlich ins Museum. Er möchte, dass sie – sollte es erneut zu einer möglicherweise dauerhaften Erblindung kommen – über einen reichen Bilder- und Farbenschatz verfügt.
Sie besuchen zunächst den Louvre, dann das Musée D’Orsay und später das Centre Pompidou in Paris, um jeweils ein Bild anzuschauen. Henry achtet auf Monas Betrachtungen, Empfindungen, um ihr dann kenntnisreiche Informationen zu den Bildern und den jeweiligen KünstlerInnen und deren Lebensumstände zu geben. Jede Betrachtung endet mit einer Lektion fürs Leben, die zunächst der Großvater ausspricht, später dann aber auch Mona, die sichtlich Gefallen an diesen Ausflügen mit Henry findet, zumal sie ihr Geheimnis sind, von denen die Eltern nichts wissen. Nirgends wird erkennbar, dass sie etwas ahnen, sie fragen allerdings auch weder den Großvater noch Mona nach den Besuchen beim Psychiater, merken aber Monas positive Veränderungen.
Parallel dazu ist Mona inzwischen – mit Erlaubnis der Eltern – bereit, sich der Hypnose des Arztes zu unterziehen und allmählich bekommt man als LeserIn eine Ahnung, was es mit Monas Halskette auf sich hat, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat, die aber in der Familie „totgeschwiegen“ wird. Von keinem bekommt Mona Auskünfte über ihre Großmutter, bis sie sich selbst unter Hypnose wieder an sie erinnern kann.
Dieser Roman kombiniert die persönliche Geschichte Monas, ihrer Erblindung, aber auch ihrer Familiengeschichte mit Ausflügen in die Kunstwelt, die in Paris in diversen Museen zu erleben ist. Die detaillierten, kursiv gedruckten Beschreibungen der jeweilige Kunstwerke die der Großvater Mona gibt – sie sind vorn und hinten im Roman zu sehen, allerdings sehr kleinformatig – können nicht immer nachvollzogen werden, da diverse Kleinigkeiten auf den Abbildungen nicht erkennbar sind. Da hätte ich mir gewünscht, die jeweiligen Kapitel hätten über je eine einseitige Abbildung verfügt.
Der Sprache des Romans spürt man den Kunsthistoriker an, der dennoch mehr oder weniger allgemeinverständlich schreibt. Die Sprache Monas, selbst wenn sie ein sehr auffassungsstarkes junges Mädchen ist, vielleicht sogar frühreif, wirkt für mich nicht immer glaubwürdig. Es ist – zumindest im Museum – die Sprache einer Erwachsenen.
Es ist ein interessanter Roman. Ich bin mir selbst allerdings nicht sicher, ob er mir wirklich gefällt. Die persönliche Geschichte zieht sich durch die immerhin 52 Museumsbesuche stark in die Länge, die Familie bleibt insgesamt konturlos und in ihren Handlungen für mich auch nicht immer nachvollziehbar. Das zum Schluss gelüftete Familiengeheimnis ist einem aufmerksamen Leser schon länger bekannt und wenig spektakulär, so dass ich nicht nachvollziehen kann, weshalb es in der Familie ein Tabu ist.
Der Roman enthält allerdings genug Impulse, über die Kunst als Lebensbewältigung nachzudenken und vielleicht auch mal wieder regelmäßig in Ausstellungen zu gehen.
Thomas Schlesser, Monas Augen. Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit. Roman. A.d. Franz. v. Nicolas Denis, München 2024, 494 S., ISBN 978-3-492072960
6 Gedanken zu „Thomas Schlesser, Monas Augen“
So wie ich die elterlichen Handlungen / Nichthandlungen in Deinem Beitrag lese, wirken diese Eltern ihrem Kind gegenüber distanziert.
Ein Erwachsener, wie es Monas Großvater ist, ist ein Segen in einem jungen Menschenleben. Eine wunderbare Zuwendung, die einem im Leben viel Halt geben kann.
Gerade heute habe ich mir gedacht, dass ich gern wieder einmal eine tolle Ausstellung sehen möchte.
Liebe abendliche Grüße
Ja, die beiden lieben und ergänzen sich wunderbar. Ich hatte auch so einen „Oppa“, der stets zeit für mich hatte, auch wenn wir nicht in Ausstellungen gegangen sind ;)
Herzliche Morgengrüße
Eine ambivalente Besprechung von dir, die sicher gerechtfertigt ist und mir – vielleicht gerade deshalb – sehr gefällt.
Einen lieben Abendgruss, Brigitte
Es darf dann jede(r) selbst entscheiden.
Liebe Grüße
sehr gute idee von oppa. es hört sich nach einem guten buch an, wenngleich es da „haken“ gibt. scheint sich dennoch zu lohnen. ich guck mal in der bibliothek. noch habe ich solche stapel, seufz. aber irgendwie ist das auch schön.
lieber sonntagsgruß
Sylvia
Bei dem Wetter kann man doch so einiges „abarbeiten“, oder?
Liebe Grüße