Adeline Dieudonné, Das wirkliche Leben

Adeline Dieudonné, Das wirkliche Leben

„Das wirkliche Leben“ ist der erste Roman der Autorin, bereits mit 15 Literaturpreisen ausgezeichnet und in 20 Sprachen übersetzt. Es ist ein spannungsgeladener, teilweise schockierender Entwicklungsroman – neudeutsch Coming-of-Age Geschichte – der die Leser:innen von der ersten Seite an in seinen Bann zieht.

Dabei ist die Umgebung, in der die Handlung spielt, eine Reihenhaussiedlung wie es sie viele gibt, scheinbar alle mit gleichaussehenden Häusern, die sich erst beim näheren Betrachten durch diverse Unterschiede in der Gestaltung oder Nichtgestaltung z.B. der Vorgärten unterscheiden. Auch die Bewohner:innen sind höchst unterschiedlich. Es leben dort Arbeitslose und vor sich hin dämmernde Gestalten, aber auch ein Professor mit seiner Frau, die nur mit einer Gesichtsmaske vor dem Gesicht vor Besuchern in ihrem Haus erscheint.

In dem schönsten und hellsten Haus der Siedlung wohnt eine vierköpfige Familie mit Hund – Vater, Mutter, Tochter und Sohn – scheinbar Inbegriff einer Idylle. Doch bereits der erste Satz des Romans deutet auf Abgründe hinter der Kulisse einer heilen Welt hin:

„Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver.“

Der Vater wird als „Koloss“ beschrieben mit breiten „Schultern wie ein Abdecker“, mit Händen wie ein Riese, „die den Kopf eines Kükens ebenso leicht abschlagen konnten wie den Kronkorken einer Flasche Cola“. Seine Leidenschaften gelten der Trophäenjagd in den „entlegensten Ecken der Welt“, dem Fernsehen und dem Whiskytrinken. Eine gefährliche Kombination wie sich im Verlauf des Romans herausstellen wird. Die Mutter dagegen ist eine hagere Frau mit langen, dünnen Haaren, mit einem Faible fürs Gärtnern und ihre Zwergziegen und erfüllt mit Angst vor ihrem Mann. Für die Ich-Erzählerin gleicht sie einer Amöbe:

„Sie muss allerdings damals schon einer primitiven, einzelligen, fast durchsichtigen Lebensform geglichen haben. … Durch das Zusammenleben mit meinem Vater hatte sich das bisschen Dasein dann nach und nach mit Furcht gefüllt.“

Schwester und Bruder sind sich sehr nahe und gegenseitiger und einziger Halt in der häuslichen Atmosphäre immer stärker werdender Aggressionen und Gewalttätigkeiten des Vaters. Bis dann eines Tages vor den Augen des Geschwisterpaares eine Tragödie passiert, als dem täglich vorbeikommenden Eismann ein Sahnesyphon explodiert.

Ab da erreicht das Mädchen ihren jüngeren Bruder nicht mehr, ist in der Familie völlig isoliert, alleingelassen mit ihrem Wunsch, ihren Bruder wieder zu erreichen, ihrer pubertären und geistigen Entwicklung, und den damit einhergehenden Veränderungen. Doch sucht es mit eisernem Willen und einer unglaublichen Zielstrebigkeit einen Ausweg aus dem Desaster. Und findet – außerhalb der Familie – Menschen, die ihr zugewandt sind und sie auf seinem Weg unterstützen.

Nach einem grauenvollen Gewaltausbruch gibt die Mutter ihrer Tochter den Rat:

Verdien so viel Gel wie möglich und geh weg von hier.“

Die Frage der Tochter, weshalb sie eigentlich ihr Leben so verbockt habe, beantwortet sie nicht, stattdessen wiederholt die diesen einzigen Rat, den sie je für ihre Tochter hatte.

Spannung erzielt die Autorin durch den Handlungsaufbau, der von Anfang an die Ahnung schürt, dass die latent immer vorhandene Aggression und Gewaltbereitschaft des Vaters einen fürchterlichen Weg des Ausbruchs findet. Dennoch ist der Handlungsverlauf nicht wirklich vorhersehbar. Die Darstellung menschlicher Abgründe in dieser Familie geschieht sprachlich eher einfach und in kurzen Sätzen, was die Fokussierung auf den Inhalt fördert und das Ganze zum page-turner werden lässt.

Was ein wenig befremdlich wirkt, ist die Ausdrucksvielfalt, das z.T. mit Fremdwörtern gespickte Vokabular der Ich-Erzählerin, die zu Beginn der Handlung noch in die Grundschule geht. Ob das mit ihrer Begeisterung für naturwissenschaftliche Themen ausreichend erklärt ist, ist fraglich. So spricht im Normalfall keine Elfjährige. Doch was ist in dieser Familie, in dieser Reihenhaussiedlung schon „normal“?

Deutlich wird allerdings, wie fehlende Sinnhaftigkeit für Menschen, besonders für den männlichen Teil, in Verwahrlosung, in Verrohung, in Gewaltorgien gegenüber Tier und Mensch münden können, die sich – aus fehlendem Mitgefühl, das sie oft selbst nicht erfahren haben – besonders in Gewalt gegenüber Frauen austobt. Der Roman ist ein Plädoyer, sich dieser Gewalt zu widersetzen, mit der Einzelne oft überfordert sind, wenn denn Gesellschaft wegsieht und immer noch dazu neigt, männliche Gewalt Frauen gegenüber zu bagatellisierten.

Es ist ein Roman, der unter die Haut geht und noch lange nachhallt.

Adeline Dieudonné, Das wirkliche Leben, Roman, a.d.Franz. v. Sina de Malafosse, 239 S., ISBN 978-3-423-21956-3

3 Gedanken zu „Adeline Dieudonné, Das wirkliche Leben

  1. Dass männliche Gewalt oft immer noch bagatellisiert wird, liegt in meiner Beobachtung auch daran, dass in vielen Familienverbänden, verbunden mit Religionen, einfach die Schöpfungsgeschichte anerkannt wird, Eva ist Adam unterstellt und Punkt. (Die Geschichte von Lilith und Adam ist dabei den wenigsten bekannt.) Ich habe mich über viele Jahre mit diesem Bild beschäftigt, in Gesprächen, mit Büchern, Vorträgen, Dokumentationen – und bin zum Ergebnis gekommen, dass viele Menschen diese Schöpfungsgeschichte heute noch für bare Münze halten. So hat es sich „damals“ zugetragen – von einem Mythos wollen sie nichts wissen. Damit wird Gewalt gegen Frauen gerechtfertigt: Das Weib ist dem Manne untertan.
    Am schlimmsten für mich ist, dass sich auch Mütter mit Vätern solidarisieren, wenn es um Gewalt gegen ihre Töchter geht. Alles mehrfach erlebt, aus meinem nun ehemaligen Berufsleben kann ich dazu viele Erinnerungen abrufen.

    Wenn Mädchen (gilt auch für Buben) früh erwachsen werden müssen, dann weisen sie oft eine Sprache auf, die wahrhaft erstaunt. Es gruselt mich, wenn Kinder bei „Erwachsenenthemen“ bereits ernsthaft mitdiskutieren können. Auch das habe ich wiederholt erlebt und hinterfragt.

    1. In diesem Roman ist von dem Mythos nicht mehr die Rede, die Auswirkung männlicher Gewalt umso stärker.
      Eine Begründung welcher Art auch immer, macht’s ja auch nicht besser.
      Gewalt zu legitimieren ist menschenverachtend, geht sie doch immer davon aus, dass ein anderer minderwertiger ist.
      Grüße aus dem noch sonnengefluteten Speckhorn

  2. Definitiv, Gewalt darf keine Rechtfertigung erfahren, denn dadurch wird sie auch nicht ungeschehen gemacht.
    Und dennoch ist sie oft nicht nur ein Zeichen von Verachtung, sondern auch von einer gewissen Hilflosigkeit. Von der Hilflosigkeit, Konflikte auf einer anderen Ebene lösen zu können.

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