Anne Cathrine Bomann, Blautöne
Elisabeth muss sich im April 2011 von ihrem kleinen Sohn verabschieden, „den sie über Jahre der Spritzen und Hormonbehandlungen hinweg herbeigeschworen hatte, makellos an der Oberfläche, während unter seiner Brust die Krankheit schlummerte.“ Zum Entsetzen der behandelnden Krankenschwester will Elisabeth den Moment, in dem die Maschinen abgeschaltet werden, nicht miterleben. Sie fühlt sich fortan zum Weiterleben verdammt und trauert intensiv mit vielen körperlichen und seelischen Begleiterscheinungen. Ihr Fazit: „Trauer ist eine Krankheit, die einen zerfrisst.“ Was aber wäre, gäbe es ein wirksames Medikament gegen diese Trauer?
Als Chemikerin arbeitet Elisabeth bei Danish Pharma und beginnt zu forschen – jahrelang – bis sie als Forschungsleiterin ein Medikament entwickelt hat, das nach Tierversuchen in der Firma nun – im Jahr 2024 – in Zusammenarbeit mit Forschern der Universität Aarhus – an Menschen erprobt werden soll.
Kurz vor der Zulassung bekommt Thorsten, Mitglied des universitären Forschungsteams, den Verdacht, dass das Medikament „Callocain“ nicht wie beabsichtigt nur die Trauer lindert, sondern bei einigen Probanden auch ihre Fähigkeit zur Empathie überhaupt. Sind das statistisch zu vernachlässigende Einzelfälle, Ausreißer oder ernst zu nehmende Nebenwirkungen, die letztendlich die Zulassung gefährden könnten? Mit den beiden engagierten Mitarbeiterinnen Shadi und Anna geht er heimlich seinem Verdacht nach, weil andere Mitglieder der Forschungsgruppe ihm vorwerfen, er unterstelle ihnen „Schlamperei“ bei der Arbeit.
In zwei zeitlich unterschiedlichen Handlungssträngen, die sich dann aber in der Phase der Überprüfung kreuzen, geht die Autorin Anne Cathrine Bomann, selbst praktizierende Psychologin, nach ihrem Debütroman „Agathe“, der Frage nach, ob Trauer ein zum Menschsein dazugehörendes Gefühl ist, das erlebt, durchlebt und – auf individuelle Weise – transformiert werden muss und dann der Hilfe und Unterstützung bedarf, wenn der/ die Trauernde allein nicht in ein eigenes Leben findet.
Es geht also auch um die Frage, wann wird Trauer pathologisch und wer genau definiert das? Der Betroffene oder die Gesellschaft, die mit den Betroffenen nicht zurecht kommt? Auf welche Weise ist Trauer heilbar? Durch Therapien, in denen nach anderen Handlungsmöglichkeiten gesucht wird oder eher Medikamente, die Trauer einfach wegmachen, verschwinden lassen sollen?
Interessanterweise haben nahezu alle Beteiligten bereits selbst Erfahrungen von Verlusten unterschiedlichster Art gemacht und sind auf sehr andere Art mit ihren Verlusten umgegangen oder stecken noch im Prozess der Verarbeitung.
Darüberhinaus macht Anne Cathrine Bomann mit diesem spannenden Roman auf die vielfältigen Möglichkeiten der Korruption, Manipulation und Interessenskonflikte im Prozess der Zulassung eines Medikamentes aufmerksam.
Durch die Struktur des Romans kommt zu Längen und inhaltlichen Wiederholungen, da die verschiedenen Personen, zunächst jeweils für sich zu ihren Erkenntnissen, Einsichten kommen, die sie dann in Gesprächen mit unterschiedlichen Personen diskutieren und zusätzlich öfter noch in Gremien oder Besprechungen mit Vorgesetzten vortragen.
Mir als Leserin war das Problem schon recht früh klar, so dass mir diese Längen den Lesegenuss ein wenig getrübt haben. Dennoch ein thematisch wichtiger Roman.
Die Autorin macht in einem Nachtwort explizit darauf aufmerksam, dass sie kein Sachbuch geschrieben hat, es also weder das Medikament „Callocain“, noch die Firma „Danish Pharma“ gibt. Jede(r) mag sich denken, weshalb.
Anne Cathrine Bomann, Blautöne, Roman, a.d. Dänischen v. Franziska Hüther, Hanserblau, München 2022, 303 S., ISBN 978-3-446-27387-0
3 Gedanken zu „Anne Cathrine Bomann, Blautöne“
Zukunftsmusik oder reine Fiktion.
Das Thema brennt natürlich unter den Nägeln.
Merci fürs Rezensieren und lieben Heutegruss,
Brigitte
Das kann ich nicht beantworten,
kann mir aber vorstellen, dass viele Menschen ein solches Medikament gern hätten, um schmerzende Gefühle nicht wahrnehmen zu müssen. Die sollen einfach weg sein.
Herzliche Grüße