Annika Reich, Männer sterben bei uns nicht

Annika Reich, Männer sterben bei uns nicht

„Großmutter war genauso alleine gestorben, wie Großmutter Vera alleine sterben würde. Vielleicht hatte Großmutter nur eine Kleinigkeit vergessen. Vielleicht hatte sie vergessen, dass sie eins eben doch nicht war: ein Mann.“

Die Ich-Erzählerin schildert die Beerdigung der Großmutter, die diese in ihrem Sinne durchgeführt wissen will. Dafür hat sie ihre Haushälterin Justyna instruiert, ohne sonst irgendeine Verwandte informiert zu haben. Dazwischen erzählt die Ich-Erzählerin in mosaikhaften Episoden ihr Leben als Kind auf dem Anwesen der Großmutter. Dort leben nur Frauen, untergebracht in vier Häuser, ein fünftes ist unbewohnt und für alle tabu. Nur die Großmutter betritt es ab und zu. Sie ist das weibliche Oberhaupt, der sich alle zu fügen haben:

„Meine Geburt hatte mich in die Nähe von Frauen geraten lassen, die mir nicht nahe waren. … Für Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir diesen Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln.“

Aussortiert wurde auch Leni, die Schwester der Ich-Erzählerin, die, ohne sich verabschieden zu können, auf ein englisches Internat geschickt wird, so dass die Ich-Erzählerin keine Verbündete mehr auf dem Anwesen hat. Auf ihre Mutter kann sie nicht zählen. So wird sie zum Lieblingskind der Großmutter erzogen, auserkoren als Erbin, die das Anwesen im Sinne der Großmutter weiterführen soll. Doch:

„Ich war das Lieblingskind, aber auch nur in einer ganz bestimmten Version, nur wenn ich genau den Platz einnahm, den Großmutter für ich vorgesehen hatte. Ich bin nicht gerne draußen. Ich fühle mich dort genauso fehl am Platz wie ihr.“

Letztendlich hat Großmutter nur Zwietracht gesät, von weiblicher Solidarität weit und breit keine Spur. Alle lösen sich nach und nach aus dem Wirkkreis der Großmutter, auf der Suche nach etwas Eigenem.

Mich hatte der Titel interessiert, allein der Roman hat mich über weite Teile eher gelangweilt. Die Charaktere sind wenig aussagekräftig gezeichnet, entsprechen eher diversen Klischees, selbst die Ich-Erzählerin ist in ihrer Entwicklung kaum nachvollziehbar und die episodenhaften Rückblenden ergeben kein interessantes Ganzes.
Der Titel ist für mich auch nicht wirklich verständlich, denn Männer kommen gar nicht vor, obwohl alle Frauen Kinder haben. Vom Großvater erfährt man lediglich von seiner dauerhaften Abwesenheit und seiner Beerdigung, von seinem Sohn ist nur ein Motorrad im fünften Haus zurückgeblieben. Und warum das so ist, kann man als LeserIn nur ahnen. Keine wirkliche Erklärung ist auch möglich, weil über alles geschwiegen wird: über den Krieg, die Männer, über Gefühle sowieso. Worüber soll man dann erzählen, wenn nicht einmal die unterdrückten Gefühle Raum finden?

Annika Reich, Männer sterben bei uns nicht, Roman, Hanser Berlin, München 2023, 205 S., ISBN 978-3-446-27587-4

2 Gedanken zu „Annika Reich, Männer sterben bei uns nicht

  1. Selbst, wenn der Roman bei Dir nicht so gut angekommen ist, lese ich Deine Rezensionen immer wieder sehr gerne. Sie sind so gestaltet, dass man einen guten Überblick erhält – nebst Deiner Meinung dazu -, und doch ist niemals zuviel verraten.
    Schönen Abend & Liebe Grüße, C Stern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert