
Helene Bracht, Das Lieben danach

„Some of you want to use you, some of them want to get used by you.“
Mit dieser Liedzeile aus den Achtzigern des letzten Jahrhunderts beginnt „Das Lieben danach“ – ein Buch, das nur schwer einzuordnen ist.
Es enthält klare autobiografische Elemente einer Missbrauchserfahrung der Autorin in ihrer Kindheit durch einen im Haus der Eltern wohnenden Untermieter, den die Mutter aufgrund seiner Bildung, Belesenheit und künstlerischen Ambitionen – er bezeichnet sich zeitweilig als Schriftsteller – verehrt, ja nahezu vergöttert hat.
Darüberhinaus reflektiert und beschreibt die Autorin, die heute als Psychologin mit eigener Praxis in Berlin lebt, die Auswirkungen dieser Erfahrungen auf ihre weiteren (Sexual-) Erfahrungen, versucht psychologisch fundierte Erklärungen auch dafür zu finden, dass ihre Mutter um diesen Missbrauch wusste, ihn gesehen und dennoch nicht wahrhaben konnte, wollte.
„Ich denke einmal mehr an meine Mutter, wie sie es in meiner Kindheit zustande brachte, alles zu wissen und doch nicht zu verstehen, einen Missbrauch zu sehen und ihn doch nicht zu erkennen. Ihre Blindheit zog in der Folgezeit auch in mein Leben ein, in meine Sicht auf mich selbst. Nicht dass ich etwas Besonderes gewesen wäre. Das lange Schweigen, das ‚Wegsperren von Erinnerungen‘, das Abspalten von Gefühlen gelten in der Missbrauchsforschung als typische Verarbeitungsleistungen der Betroffenen. Diese Muster verbinden uns.“
Sie kann als Erwachsene ganz allmählich ihre damalige Situation begreifen, verstehen, warum sie stillgehalten, was sie an den Begegnungen mit Strecker, dem Untermieter, auch faszinierend fand, womit er sie sie fesseln konnte und nach und nach auch die Begrenztheit der Mutter sehen, begreifen und verzeihen, die in ihrer eigenen Ehe „ihren ehelichen Pflichten“ nachkommen musste, wann immer ihr kriegsversehrter Mann dazu in der Lage war. Sie als Kind war sich dann sich selbst überlassen, hörte und konnte das Gehörte, das sie als Bedrohung wahrnahm, nicht zu- und einordnen.
Angereichert sind ihre persönlichen Erfahrungen mit Ausführungen über kindliche Bindungserfahrungen, der Notwendigkeit, eigene (Körper) Grenzen wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass man sie selbst und auch andere sie einhalten, und der Tatsache, dass vieles, was man verdrängt hat, im eigenen Körpergedächtnis gespeichert ist. Zugleich werden am Beispiel dieser Kleinfamilie die persönlichen und gesellschaftlichen Zustände nach dem verlorenen 2. Weltkrieg deutlich, die Auswirkungen auf Psyche und Zusammenleben, in dem Schweigen die weitverbreitete und gängige „Verarbeitungsmöglichkeit“ war, begleitet von Scham und Schuld, die dann wiederum auch unsichtbar gemacht werden mussten.
Es ist kein einfaches Buch. Es geht unter die Haut. Selbst wenn man keine eigenen körperlichen Missbrauchserfahrungen gemacht hat, findet man sich, finde ich mich, zumindest in den Beschreibungen wieder, wie Mädchen von Müttern erzogen worden sind, von denen als „anständige“ Frau und Mutter erwartet wurde, stets zur Verfügung zu stehen und dafür zu sorgen, dass es den anderen gut geht. Was immer das auch heißen mochte.
Es ist ein wichtiges Buch, ein Buch, das unter die Haut geht, vor allem, wenn man sehen kann, wie sich allüberall Tendenzen bemerkbar machen, die wieder mehr „maskuline Energien“ fordern. Was das bedeutet, wissen Frauen nur zu gut, die immer wieder Gefahr liefen, von patriarchalischem Herrschaftsgebaren domestiziert zu werden.
Helene Bracht, Das Lieben danach, München 2025, 192 S., ISBN 978-3-446-28291-9
4 Gedanken zu „Helene Bracht, Das Lieben danach“
Deine Beschreibung spricht mich sehr an und damit geht das Buch bereits auf diese Weise unter meine Haut.
Die Beschreibung der Mutter erinnert mich haarscharf an eine Frau, die ich selbst kannte: Vier Kinder, zwei davon haben sexuelle Gewalt durch den Vater erfahren. Die Mutter, eine sehr gebildete Frau, wusste davon und hat sich zu bestimmten Zeiten extra außer Haus begeben … Ich werde das nie-,niemals begreifen! Für eines ihrer beiden missbrauchten Kinder haben diese schrecklichen Erfahrungen tödlich geendet – die junge Frau wurde schwerst alkoholkrank und ist letztendlich einige Jahrzehnte danach daran verstorben.
Auch gegenwärtig müssen immer noch viel zu viele Frauen ihren „ehelichen Pflichten“ nachkommen – ich habe dies wiederholt auch in der Elternarbeit in Gesprächen mit Müttern unserer Kinder gehört. Und auch da passierte es, dass Kinder anwesend waren, ohne von den Eltern entdeckt zu werden. Sie haben uns dann in aller Unschuld davon erzählt.
Was die Rolle der Frau betrifft, sind unsere Gesellschaften ganz klar dabei, sich wieder rückwärts zu bewegen :-((
Vielen Dank für Deine Buchbesprechung!
Gern, und auch immer wieder.
Herzliche Morgengrüße
Ach, was für ein trauriges Kapitel in manchen „anständigen“ Familien.
Ich denke, dass das ein wichtiges und erschütterndes Buch ist, das aufzeigt, wie fragil viele familiären und sexuellen Beziehungen waren und teilweise noch heute sind.
Danke für deine Leseerfahrungen damit.
Lieben Gruss, Brigitte
Ja, die Fassaden aufrechterhalten –
das war ein wichtiges Ziel in den Jahren nach dem Krieg und auch noch lange danach.
Wie es dahinter aussah, ging keinen etwas an. Die, die darüber sprachen, wurden oft zu Nestbeschmutzern erklärt und nicht selten auch aus dem Nest geworfen. Sie hatten ihr Bleiberecht verwirkt.
Liebe Grüße