Ivo Andric, Das Fräulein

Ivo Andric, Das Fräulein

„Wenn du etwas tust, möge Gott dir verzeihen! Doch wenn dein Herz mit totem Wachs versiegelt ist, dann lastet ein Fluch auf dir.“
(Janko Veselinovic)

Dieses Zitat ist eines der Zitate, die dem jetzt neu erschienenen Roman „Das Fräulein“ des Nobelpreisträgers Ivo Andrics vorangestellt ist. Erstmals erschienen ist der Roman 1945.
Schon dieses Zitat steht für mich im Gegensatz zu dem doch eher anmutig erscheinenden „Fräulein“ auf dem Cover. Denn der Roman ist die Charakterstudie einer unverheirateten, sehr zurückgezogen lebenden, alleinstehenden Frau, die als „Geizkragen und Sonderling“ galt und 1935 vom Briefträger tot in ihrem Haus gefunden wird. Er ist ums Haus herumgegangen, nachdem er zwei Tage vergeblich bei ihr an der Tür geklingelt hatte.
Die Frage, ob ein Verbrechen vorliegt, ist schnell beantwortet:

„Diesmal war es den Zeitungen nicht vergönnt, lange Reportagen mit gruseligen Einzelheiten und Fotos zu bringen. Die Kommission, die sich sofort in die Stiška-Straße begeben hatte, stellte rasch und einwandfrei fest, dass es sich nicht um ein Verbrechen handelte, sondern dass die alte Jungfer eines natürlichen Todes gestorben war – an einem Herzschlag … .“

Die äußere Rahmenhandlung spielt an nur einem Tag, eigentlich in nur in der kurzen Zeit „so lang wie die Dämmerung zwischen Tag und Nacht, die zu nichts Vernünftigerem zu gebrauchen war, denn man sah weder die Nadel noch den Faden, und es lohnte sich noch nicht, das Licht anzuschalten. An diesem Abend hatten sich die wenigen Minuten etwas in die Länge gezogen, war doch ihr ganzes Leben mit den einstigen Erlebnissen Menschen und Geschäften an ihr vorübergehuscht. Aber das alles bedeutete nichts mehr und existierte im Grunde nicht mehr für sie, als hätte es das nie gegeben.“

Aber was für ein Leben wird da ausgebreitet. Es ist die Lebensgeschichte von Raijka Radakovic aus Sarajevo, die im Alter von 15 Jahren ihrem Vater auf dem Sterbebett geschworen hat, sparsam und bescheiden zu leben. Denn dieser war durch seine Geschäfte in finanzielle Schwierigkeiten geraten, was ihm in jeder Hinsicht sehr zugesetzt hatte.
Und sie nimmt es ernst mit diesem Versprechen, so ernst, dass ihre Sparsamkeit zur Sucht, zur Besessenheit, zur unglaublichen Rücksichtslosigkeit gegen jedermann und jederfrau führt, die eigene Mutter nicht ausgenommen. Sparen wird zu d e m Ziel ihres Lebens, die erste Million zu ihrer Vision, zum Antrieb von allem, letztendlich zum Wahn.

Nur die „ungeahnten und unübersehbaren Schönheiten und Wonnen der Sparsamkeit“ sind der einzige Genuss, den sie sich immer und zu jeder Zeit ihres Leben gönnt, dem sie – bis auf eine Ausnahme – ihr Leben widmet.

Entstanden ist ein lesenswerter, unterhaltsamer Roman über den Geiz, personifiziert durch Raijka Radakovic, auf die alle Personen und Ereignisse – und da kommen eine Menge an Geschäftsleuten, Verwandte, politische und gesellschaftliche Vorkommnisse zusammen – zugeschnitten sind. Es ist eine spannend zu lesende „exzessive psychologische Durchleuchtung einer Figur“ – so Michael Martens in seinem Nachwort – , die allerdings auch die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, den Ersten Weltkrieg mit seinen Folgen nicht außer Acht lässt, auch wenn das Fräulein stets glaubt, sich dafür nicht interessieren zu müssen, weil es für sie ohne Bedeutung ist. Er spät merkt sie, dass sie zwar außerhalb menschlicher Gesellschaft lebt, aber über ihre Geschäfte dennoch eng mit ihr verwoben ist. Dass Nichtbeachtung nicht bedeutet, dass etwas deshalb auch keine Auswirkungen hat.

Das Neue dieses Romans besteht darin, dass der Geizkragen eine Frau ist. Ein sprachliches Pendant dazu gibt es meines Wissens (noch) nicht. Insgesamt – trotz des Themas: Für mich ein Lesevergnügen!

Ivo Andric, Das Fräulein, Roman, Deutsch v. Edmund Schneeweis, überarbeitet v. Katharina Wolf-Grießhaber, mit einem Nachwort v. Michael Martens, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023, 270 S. ISBN 978-3-552-07341-8

2 Gedanken zu „Ivo Andric, Das Fräulein

  1. Merci für den Buchtipp. Ja, es gibt sie, diese krankhaft sparsamen, geizigen Frauenzimmer, auch wenn man es kaum glauben will. (Ich kannte sogar in meiner Verwandschaft welche…)
    Den Schriftsteller Ivo Andric kannte ich bisher nicht.
    Einen lieben Gruss,
    Brigitte

  2. Es ist auch meine erste Begegnung mit diesem Autor.
    Diese Raijka hätte sogar noch überlegt, wie sie das Atmen einschränken könnte, wenn sie für die Luft hätte bezahlen müssen …
    Liebe Grüße

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