Lindita Arapi, Albanische Schwestern

Lindita Arapi, Albanische Schwestern

„Alba beschloß rauszugehen. Schließlich ging es nur darum, etwas im Supermarkt zu kaufen, machte sie sich Mut. Du mußt ja mit niemandem ein Wort wechseln, erledige rasch deine Sachen und komm zurück. Versuch gar nicht erst lang, dich zu rechtfertigen, auch er ist inzwischen dahinter gekommen, los jetzt. Zweifelnd zog sie die Tür auf.“

Wer genau liest, erfährt bereits in diesen ersten Sätzen des Romans, dass Alba Schwierigkeiten hat, mit sich selbst und einem „Er“. Es ist ihr österreichischer Ehemann, ein Informatiker, mit dem sie in Wien in einer Dreizimmer Eigentumswohnung lebt.

Sie schafft es, in den Supermarkt zu gehen und innerhalb weniger Minuten ihre Lebensmittel in den Wagen zu legen. Ihre Hoffnung, schnell wieder draußen zu sein, macht die lange Schlange vor der Kasse zunichte. So hat sie – notgedrungen – Zeit, die Menschen im Supermarkt zu beobachten, die „ordentlichen Steuerzahler“, die vielen Menschen in dieser Stadt, die stets dazu bereit sind „den Zeigefinger zu erheben, um andere an die Einhaltung der Regeln zu erinnern.“
Männer mit dicken Bäuchen geraten in Albas Fokus, mit ihrem animalischen Instinkt und entsprechenden Blicken, sobald sie eine attraktive Frau erblicken, die dann auch in Form einer hochgewachsenen, gut geschminkten Blondine im Minirock, „der an die Grenze ging, die nicht überschritten werden durfte“, mit Lederjacke, Spitzenbluse und einem locker über die Schulter getragenen Rucksack im Supermarkt erscheint. Männer bekommen „Stielaugen“ und die umstehenden Frauen reagieren verärgert ob der aufgetauchten Konkurrenz.

Diese schöne Frau erinnert Alba an ihre immer noch in Albanien lebende ältere Schwester Pranvera, an deren Seite sie früher durch ihr Städtchen ging, „ohne sich umzusehen, so wie es ihr die Eltern aufgetragen hatten.“ Eine zerbrochene Rotweinflasche, deren Inhalt sich auf den Fliesen des Supermarktes ergießt, ist für Alba wie eine Blutlache, eine Blutpfütze und löst in ihr eine akute Panikattacke aus, die sie nur mit Mühe bewältigen kann, damit Umstehende davon nichts mitbekommen:

„Plötzlich erwachte dieser Junitag des Jahres 1987 in ihr. Glieder und Rippen waren in Alarmbereitschaft. Das Zimmer und die Erniedrigung hatten nicht nur in ihrer Seele Spuren hinterlassen, sie waren im Körper eingespeichert. Auch wenn die Wunden verheilt waren, genügte Jahrzehnte später eine im Supermarkt zerbrochene Weinflasche, damit das Körpergedächtnis erwachte. Pranveras Schmerzen waren immer auch ihre Schmerzen gewesen.“

In diversen Rückblenden erlebt man, wie Alba in einem von einer kommunistischen Diktatur geprägten Albanien aufgewachsen ist, erfährt, was es heißt, in dieser noch von traditionellen Ehrenkodexen geprägten Gesellschaft als Mädchen aufzuwachsen in einem

„gottverlassenen Nest, wo zu dieser Zeit der einzige Wandel das Knospen und Welken der Blätter war, je nach Jahreszeit. Wo es sich für Frauen nicht gehörte, laut zu lachen, wo die Geburt eines Mädchens dessen Schicksal als minderwertiges Wesen besiegelte, ein Bewusstsein, das mit der Muttermilch eingesogen wurde und fortbestand als Existenz unter der Allmacht der Angst.
Sie war ein Mädchen der Angst. Der uralten Angst, die mit dem Schicksal zusammenhing, als Frau geboren zu sein, über Generationen weitergetragen, tief eingegraben in die Schichten des Unterbewusstseins. Diese Angst führte dazu, dass Frauen schon gebeugt zur Welt kamen und mit gesenktem Kopf und schamrotem Gesicht aufwuchsen.“

Beide Schwestern versuchen durch ein Studium der engen Welt ihrer Eltern zu entkommen, die durch große Armut, Lieblosigkeit und vor allem Respektlosigkeit und Gewalt Frauen gegenüber geprägt ist. Doch der „Arm des Vaters“ erreicht Pranvera noch im Studentenwohnheim. Einer beginnenden Liebe sind überall Grenzen gesetzt: Die Pflicht der Frauen, den Eltern keine Schande zu bereiten, aber auch Standesdenken lassen Beziehungen zerbrechen, mit verheerenden Folgen für die Frauen, in diesem Fall Pranvera.

Alba geht zum Studium nach Wien, lernt dort ihren späteren Ehemann kennt und hofft, durch eine Heirat so etwas wie ein Zuhause, eine neue Heimat zu finden. Doch auch ihr Ehemann ist ein Bedürftiger, der Liebe oder das, was er dafür hält, bekommen will und abweisend und unverständlich reagiert, wenn er nicht das von Alba nicht bekommt, von dem er meint, es stehe ihm zu. Er flüchtet sich in Affären. Für Alba hat er kein Verständnis, letztendlich kann sie sich im aber auch nicht mitteilen, sondern zieht sich immer mehr in sich zurück. Von einer guten Bekannten wird sie schließlich gedrängt, eine Therapie zu machen.

Während sich Alba immer mehr ihrer Geschichte annähert, die „ihnen beiden einen Stempel aufgedrückt hat“, beschließt Pranvera, die Sache im Schweigen versinken zu lassen: „So waren die Zeiten damals eben, Albinchen, wir wollen nicht mehr davon sprechen.“

Der Roman zeigt am Beispiel der beiden Schwestern die lebenslangen, generationsübergreifenden Folgen einer patriarchalisch diktatorisch geprägten Gesellschaft und deren grausamen Konsequenzen letztendlich für alle Beteiligten, deren Kinder dieser Gesellschaft entfliehen wollen, aber auch im eher kapitalistisch geprägten Westen nicht die erhoffte Freiheit und Heimat finden. Denn dort – zumindest wie Lindita Arapi es sieht – bleibt Alba eine Fremde, die einfach nicht dazugehört. Zudem beherrscht dort das Prinzip des „Habens“ das Sein, das vergleichsweise ebenso stark Lieblosigkeit fördert, denn auch dort wachsen Kinder ohne die notwendige Fürsorge liebevoll zugewandter Eltern auf und wenden sich später dann von ihnen ab. Konsequenz davon ist, dass Eltern im Alter allein dastehen, im Westen vielleicht noch in Altersheimen versorgt werden, in Albanien dagegen in ihren Häusern vor sich hinvegetieren und auf die Hilfe mit fühlender Nachbarn angewiesen sind.

Es ist – für mich – ein bedrückend aktueller Roman, der die generationsübergreifenden Machtstrukturen patriarchalisch geprägter Gesellschaften verdeutlicht, die Frauen nicht als gleichberechtigte und gleichwertige Personen ansehen, mit verheerenden, auch heute noch spürbaren Auswirkungen. Da muss man sich nicht erst Albanien oder vergleichbaren Ländern zuwenden.
Ich erinnere noch gut die Zeit, in der ich in einer katholisch patriarchalisch geprägten Familie und Umgebung aufgewachsen bin, in der Mädchen nach anderen Regeln erzogen wurden und zu funktionieren hatten als Jungen, mit weitreichenden Folgen, wenn man sich diesem System entziehen wollte.

Lindita Arapi, Albanische Schwester, a.d. Albanischen v. Florian Kienzle, Weidle Verlag, Bonn 2023, 236 S., ISBN 978-3-949441-07-3

4 Gedanken zu „Lindita Arapi, Albanische Schwestern

  1. Oh ja, man muss nicht weit schauen…
    Immer noch und immer weiter gucken die Frauen auf die Gesichter der Männer, denn was sich da zeigt, ist manchmal überlebenswichtig…
    Danke für die Buchbesprechung!
    Gruß von Sonja

  2. Was für schwere, tragische Schicksale.
    Als Frau bin ich unendlich dankbar, in einer freieren, respektvolleren Gesellschaft aufgewachsen zu sein und diese aufgezwungene Scham im eigenen Umfeld nicht zu kennen.

    Einen lieben Abendgruss,
    Brigitte

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