
Milena Michiko Flašar, Oben Erde, unten Himmel

Milena Michiko Flašar ist auch Autorin des zauberhaften und tiefgründigen Romans „Ich nannte ihn Krawatte“, den ich schon vor einiger Zeit gelesen habe, in dem es um die Begegnung zweier Außenseiter geht, die sich regelmäßig in einem Park treffen.
Auch in diesem Roman geht es um verschiedene Spezies von Außenseitern der japanischen Gesellschaft. Da ist zum einen die Ich-Erzählerin Suzu Tadaka:
„Ich war gern allein. Und eigentlich hat sich daran auch nichts geändert. Nach wie vor bin ich kein Mensch, der viel Gesellschaft um sich braucht. Anders als früher brauche ich jedoch welche, und die Erkenntnis, dass dem so ist, hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Davor glich es einer Einbahnstraße, auf der nur ich allein unterwegs war. Kein Gegenverkehr. Kein Stau. Ich kam einigermaßen voran. Aber machte es mir denn Spaß voranzukommen? Die Antwort lautet definitiv Nein.“
Suzu Tadaka hat ihr Studium abgebrochen, lebt in einer sehr kleinen Wohnung mit ihrem Hamster Punsuke, den sie hat, um „etwas Grundlegendes nicht zu verlernen. … Für jemand da zu sein.“ Sie jobbt in einem Restaurant für ihren Unterhalt. Den Kontakt zu ihren Eltern meidet sie bewusst, will sie sich doch nicht jedes Mal mit deren Fragen nach einer möglichen Karriere und einem zukünftigen Schwiegersohn auseinandersetzten. Ja, sie ist ab und an auf einer Dating-App, doch die „Ausbeute“ ist mäßig und letztendlich unbefriedigend.
Und dann ist sie eine zeitlang arbeitslos und muss sich um einen neuen Job kümmern, um über die Runden zu kommen. Sie bekommt bei Herrn Sakai, dem Chef einer Reinigungsfirma einen Vorstellungstermin, bei dem sie auf einen Typen trifft, der denselben Familiennamen trägt wie sie. Viel später erfährt sie, dass er stiller Einzelgänger ist und in einem Manga Kissa wohnt, einer Wohnhöhle in einem Internetcafé. Auch Herr Sakai lebt allein in einer 1K-Wohnung, einer Einzimmerwohnung mit Küche. Einsame „Wölfe“ am Rande der Gesellschaft. Wobei sich im Verlauf des Romans die Frage stellt: Worin genau könnte diese denn bestehen?
Ihr zukünftiger Job ist ein ganz spezieller Reinigungsjob – Leichenfundortreiniger:
„Leute zu kriegen, die verlässlich sind, Leute mit Takt und Fingerspitzengefühl, ist gar nicht so einfach. In unserem Business ist es enorm wichtig, die Diskretion zu wahren. … Als Leichenfundortreiniger tragen wir Sorge dafür, dass aus Fundorten wieder Orte werden. Wir machen sie wieder bewohnbar. Im Übrigen haben wir uns auf Kodokushi spezialisiert.“
Kokodushi bezeichnet den Tod von Menschen, überwiegend sind es Männer, die in sozialer Isolation gelebt haben, einsam gestorben sind und meist lange unentdeckt in ihrer Wohnung gelegen haben. Herr Sakai spricht von ca. dreißigtausend Fundleichen im Jahr bei steigender Tendenz und bezeichnet Einsamkeit als Volkskrankheit. Nach Beendigung des Vorstellungsgespräches fragt er die beiden Tadakas , die bereits am nächsten Tag bei ihm anfangen sollen:
“ ‚Kennen Sie Ihre Nachbarn?‘
Wir schluckten hörbar. Die Frage war zu plötzlich gekommen.
Herr Sakai lachte: ‚Ihrer Reaktion nach zu urteilen, kennen Sie sie nicht. Meine persönliche Bitte an Sie: Lernen Sie sie kennen. Sie müssen nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, es genügt, wenn Sie sich gelegentlich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen. Für de Lösung des Problems wäre schon viel getan.‘ „
Der Roman thematisiert die Vereinsamungstendenzen in modernen Gesellschaften, das isolierte Leben von Menschen in Wohnungen, die z.T. Käfigen nicht unähnlich sind, und die teilweise dramatischen Auswirkungen eines solchen Lebens für die eigene Befindlichkeit der Betroffenen und die Fähigkeit, soziale Kontakte zu knüpfen und dann auch aufrechtzuerhalten.
Herr Sakai schafft es auf seine sakaihafte Art und Weise, den Mitglieder seiner Firma Respekt vor den Toten beizubringen, deren Wohnungen sie nie ohne ein Begrüßungsritual betreten, und aus ihnen ganz allmählich ein Team zu machen, das sich auch für die jeweils anderen verantwortlich fühlt.
So bekommt auch Suzu Tadakas Leben über die Beschäftigung mit dem Tod, den Toten in den jeweiligen Wohnungen einen anderen Zugang zum Leben, zu ihrem und dem ihrer Mitmenschen.
Wieder einmal ein lesenswerter Roman von Milena Michiko Flašar, der im als Anhang alphabetisch angeordnete Worterklärungen für die im Text benutzten, kursiv gedruckten japanischen Wörter enthält.
Milena Michiko Flašar, Oben Erde, unten Himmel, Roman, Berlin 2023, 299 S., ISBN 978-3-8031-3353-3
4 Gedanken zu „Milena Michiko Flašar, Oben Erde, unten Himmel“
Die morgendliche Stille will genützt sein und so genieße ich Deine neueste Rezension: Auch über die Schriftstellerin ein paar Recherchen – sehr spanneder persönlicher Background.
Asiatische Lebensräume empfinde ich – wo immer sie mir begegnen – als äußerst beklemmend. Diese Enge, oft allein schon durch extrem beengte Räumlichkeiten vorherrschend (worauf auch der Roman Bezug nimmt), stimmt mich schon klaustrophobisch.
Und erst recht, wie sehr auch Gesetze, Normen und Erwartungen das Leben der Menschen einschnüren … Auch die Anonymität, mit der Menschen an Menschen vorbeileben, all das kann einfach keine Helligkeit zwischen Menschen ermöglichen, schafft Außenseitertum, Einsamkeit, Verzweiflung, Depression, Tod durch eigene Hand. Keine Überraschung, dass sogenannte Kuschelminuten, in denen Menschen einfach umarmt oder berührt werden, die bezahlt werden müssen, hoch im Kurs stehen …
Auch die maßlos strengen Vorgaben im Bildungsbereich schaffen schon viele depressive Kinder, die Suizidraten sind dramatisch.
Meine Begnungen mit Kindern aus asiatischen Ländern sind mir lebhaft im Gedächtnis: Nicht vergessen auch jenes Mädchen, das uns wiederholt in einer Art vorauseilendem Gehorsam ihre Hände entgegenhielt, in Erwartung von Hieben mit dem Lineal oder einem Stöckchen … Erschütternd!
Ein starker Roman, dies untermauern auch die Stellen, die Du einbringst! Danke für die Vorstellung!
Herzliche Morgengrüße, C Stern
Mir gefällt an diesem Roman, bzw. an den Romanen die Haltung der jeweiligen Erzähler, die sehr nah, sehr zartfühlend bei den jeweiligen Protagonisten ist, sie ohne spürbare Bewertungen beschreibt, so dass man als LeserIn die Möglichkeit hat, sich selbst zu positionieren.
Was du über deine Erfahrungen mit Kindern schreibst, ist immer wieder erschütternd, da sie die Untiefen im Umgang mit Kindern verdeutlichen. Vieles erinnert mich an meine Kindheit, in der es „guter Brauch“ war, Kinder zu bestrafen, meist auf sehr demütigende Weise. Und die, die den Mut hatten sich dagegen zu wehren, gingen ein sehr hohes Risiko ein.
Herzliche Grüße in deinen Morgen.
Derzeit lese ich diesen Roman, wozu sicher auch deine Besprechung beitrug.
Viel mir Fremdes wird beschrieben, herrlich Skurriles auch, aber auch echt Ekliges.
Die Sprache fesselt!
Gruß von Sonja
Das Eklige steht aber – wie bei der Protagonistin – hoffentlich nur zu Beginn in deinem (Lese-)Fokus.
Herzliche Abendgrüße, verbunden mit dem Wunsch, die Lektüre möge „unterm Strich“ lohnend für dich gewesen sein.