
Nina Bouraoui, Geiseln

„Ich heiße Sylvie Meyer. Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt. Ich bin Mutter zweier Kinder. Ich lebe seit einem Jahr von meinem Mann getrennt. Ich arbeite bei Cagex, einem Gummiunternehmen. Ich bin für die Produktionskontrolle zuständig. Ich bin nicht vorbestraft. Ich kenne keine Gewalt und habe nie Gewalt erfahren, keine Ohrfeigen, keine Schläge mit dem Gürtel, keine Beschimpfungen, nichts.“
So stellt sich die Ich-Erzählerin in „Geiseln“ vor.
Was kann sie da schon von ihrem Leben erzählen?
Doch bereits der Titel macht neugierig: Wird sie zur Geisel, nimmt sie Geiseln?
Sie erzählt zunächst davon, dass sich ihr Mann – ziemlich unvorhergesehen – von ihr getrennt hat. Äußerlich nimmt sie die Nachricht gefasst bis gleichgültig auf:
„An dem Tag, als mein Mann mir eröffnete, dass er geht, habe ich nicht geweint. Es war eine Nachricht wie jede andere, sie hätte aus den Abendnachrichten sein können.“
Dennoch ist sie traurig, nur zugeben kann und will sie es nicht. Gefühle zu zeigen, hat sie offensichtlich nicht gelernt. Dennoch bemerkt sie eine innere Veränderung:
„Ich glaube, dass sich in diesem Moment etwas in mir gelöst hat. Nichts Schlimmes, eher wie eine Art Riss, der sich Zeit gelassen hatte und jetzt auftat. Durch diesen Riss ist alles eingedrungen, unmerklich, systematisch.“
Mit der Zeit merkt Sylvia, wie tief der Riss sich durch ihr gesamtes Leben zieht, vor allem durch ihr Arbeitsleben. „Ich war zum Resonanzkörper meines Chefs geworden. … Ein Meister der Grausamkeit.“ Sie bemerkt, was sie alles in die Arbeit investiert, auch was sie aufgegeben hat: „Der Job war mein Liebhaber geworden; aber ohne Respekt seines Chefs zu arbeiten, das geht nicht.“ Sylvie spürt nun ihre unendliche Müdigkeit, die sie vorher nicht wahrnehmen konnte und wollte, da Müdigkeit für sie Schwäche bedeutet, die sie bisher nicht zulassen konnte.
„Alle jammern doch ständig, dass sie müde sind, und ich will so nicht sein.“
Und dann ist Schluss:
Es „ist immer dasselbe: Sie trampeln auf uns herum, und wir halten die Klappe, von irgendwas muss man ja leben. Ja, wir nehmen es hin und machen weiter, folgen der vorgezeichneten Linie von der Wiege bis zur Bahre, wir werden gedemütigt und halten die Hand auf, weil wir es uns nicht leisten können, die Tür hinter uns zuzuschlagen, nur machmal träumen wir davon, zu gehen, ihnen das Maul zu stopfen, damit die Demütigungen endlich aufhören; wenn man denn die Wahl hätte. Die Wahl haben heißt frei sein.“
Sie nimmt die Herausforderung der Wahl, von der sie bisher immer nur geträumt hat, an und handelt, mit ungeahnten Folgen für sie. Sie entdeckt, wessen Geisel sie ihr Leben lang gewesen ist, mit welchem Phantom in ihr sie gelebt hat. Sie begreift allmählich, welche Konsequenzen das für sie, ihr Leben, vor allem für ihre Ehe und das Verhältnis zu ihren Kindern hatte.
Es ist ein lesenswerter Roman, der auf der einen Seite ein sehr individueller ist, erzählt er doch die Lebensgeschichte der Sylvie Meyer, dennoch aber gesellschaftliche Missstände aufzeigt, vor allem, wie sie sich auf das Leben von Frauen auswirkt, für die Sylvie stellvertretend steht.
Nina Bouraoui, Geiseln, Roman, a.d. Franz. v. Nathalie Rouanet, Elster Verlag, Zürich 2021, 125 S., ISBN 978-3-906903-16-3
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