
Suleiman Addonia, Die Sehenden

„Manchmal müssen wir uns entscheiden, was mehr wehtut: unsere Geschichten zu erzählen, in all ihren Farben und Formen, egal wie abstoßend sie sind, oder den Preis dafür zu bezahlen, wenn sie unerzählt bleiben.“
Und Hannah entscheidet sich, ihre Geschichte zu erzählen, nachdem sie – ziemlich entsetzt – festgestellt hat, dass sich bei der britischen Einwanderungsbehörde niemand, wirklich niemand für ihre Geschichte bzw. für die tatsächlichen Gründe ihrer Migration interessiert. Ihre Anwältin erklärt ihr, dass die „Eindampfung“ ihrer Geschichte die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ihrem Antrag stattgegeben wird. Aber das dauert.
Lange.
Jahre der Ungewissheit. Ohne die Möglichkeit, Sprachkurse zu besuchen und arbeiten zu gehen.
Inzwischen ist Hannah, geflüchtet aus Eritrea, bei Diana untergebracht, die immer wieder Geflüchtete aufnimmt und sie betreut.
„Doch während ich wartete, verlor ich auch den Kontakt zu meinem Heimatland. Entwurzelt verschwendete ich mein Leben an meinem Fenster.“
Auf der Suche nach einer, nach ihrer Identität oder wenigsten nach ein wenig Halt und menschlicher Nähe entdeckt sie verschieden Wege: zum einen ihre Sexualität in all ihren Tiefen und Untiefen:
„Das bedeutete Sex für mich: jemanden in mich hineinzulassen, der seiner Fantasie freien Lauf ließ … Sex ist ein Zuhause. Sex ist unsere Freiheit.“
Darüber hinaus versucht Hannh über das Tagebuch ihrer Mutter Kontakt zu ihrem Ursprungsland zu halten, macht allerdings in den Eintragungen der Mutter schockierende Entdeckungen, die die Person ihrer Mutter und die Beziehung ihrer Eltern in dein völlig neues Licht rücken. Schwer zu verdauen und zu integrieren.
Und dann sind dann noch die Wörter, ihre eigenen, die ihrer Sprache und die der Dichter. Sie erinnert sich an ihren Vater, der als Analphabet Bücher gesammelt und in seinem Garten vergraben hat, um sie vor der Zerstörung zu bewahren. Denn Eritrea ist ein besetztes Land.
Und auch Diana hat Bücher. Und ihre AutorInnen und DichterInnen leisten Hannah in ihrer Obdachlosigkeit Gesellschaft, als ein Baum in einem Park ihr Zuhause wird, weil sie nicht weiter bei Diana bleiben kann.
Sie lernt dort eine Frau kennen, von der sie später erfährt, dass sie transexuell ist und aus ihrer Heimat geflüchtet ist, weil sie dort eingemauert war in „Schweigen, Angst und Lügen. Ich habe Jahre in einem Gefängnis verbracht, das niemand außer mich sehen konnte.“
Sie bezeichnet sich und Hannah als „Sehende“:
„Wir sind Sehende, Liebes, weil wir uns erst von innen heraus sehen mussten, wie wir wirklich sind, seit unserer Geburt, bevor wir gelernt haben, den Rest der Welt zu sehen.“
Suleiman Addonia ist ein eriteisch-äthiopischöbritischer Autor, der Flüchtlingslager aus eigener Erfahrung kennt. Er erzählt Hannahs Geschichte, die Geschichte einer unbegleitet (noch) Minderjährigen, die sich in der Wartezeit mehr oder weniger sich selbst überlassen bleibt mit den Erfahrungen ihres eigenen Landes, ihrer Flucht und den da gemachten Erlebnissen, den Anfeindungen von Teilen der britischen Gesellschaft, die in der Person eines unflätigen rassistischen Nachbarn eine Stimme bekommt, der offensichtlich nichts anderes zu tun hat, als Diana und ihre BewohnerInnen ständig zu beschimpfen.
Ihr Weg, ihre Möglichkeit der Identitätssuche geht – im wahrsten Sinne des Wortes – unter die Haut, unter die Hannahs und im übertragenen Sinne unter die der LeserInnen.
„Die Sehenden“ ist sprachlich an vielen Stellen durch die Art der verwendeten Metaphern, durch eingefügte Gedichtzitate wundervoll poetisch, in derDarstellung ihrer sexuellen Fantasien und Praktiken sehr direkt, fast brutal, aber hinsichtlich des Erzählten dann auch wieder passend.
Ein Roman, der lange nachwirkt.
Suleiman Addonia, Die Sehenden, Roman a.d. Engl. v. Sula Textor, Orlanda Verlag Leipzig 2025, 175 S., ISBN 978-3-949545-69-6
2 Gedanken zu „Suleiman Addonia, Die Sehenden“
Oh, das scheint mir harte, literarische Kost zu sein.
Ich denke nicht, dass ich mir diese zumuten möchte.
Vor allem hätte ich Angst, dass so ein Buch bei mir zu lange nachwirken könnte.
Dennoch danke und liebe Grüsse,
Brigitte
Ja, manchmal schmerzt Literatur, weil es tiefe Verletzungen abbildet, das Menschen zugefügt und Menschen sich selbst zufügen.
Liebe Grüße