Theres Essmann, Dünnes Eis

Theres Essmann, Dünnes Eis

„Ich wollte die Schuld. Ich brauchte sie zum Weiterleben.
Ich wusste, du würdest versuchen, mir die Schuldgefühle zu nehmen. Deshalb habe ich es für mich behalten.
Ach, Elias! Was habe ich mir nur angetan, ein ganzes Leben lang? Was hat das Leben mir angetan?“

Das ist die tiefe, bittere Erkenntnis Mariettas, einer in einer Residenz – von allen Resi genannt – lebenden Witwe, die gerade ihr einhundertstes Lebensjahr beginnt, als sie die zwölf Glockenschläge einer Kirchturmuhr zählt. Da sie nicht schlafen kann, setzt sie sich an ihren sehr alten Schreibtisch, dessen oberste Schublade zahlreiche alte Fotos beinhaltet, die da – alle mit der Bildseite nach unten – liegen. Sie fischt einige heraus und beginnt damit ihre Reise in die eigene Vergangenheit.

Durch diese regelmäßigen, nächtlichen Erinnerungstouren, in denen sich gegenwärtige und frühere Erlebnisse vermischen, wabern auch auch ihre nächtlichen (Alb-)Träume und Tagträume. Schnell wird einem – bei aufmerksamer Lektüre – klar, dass es da eine Menge immer noch unverarbeiteter Kriegserlebnisse gibt, die schweigend und mit viel Anstrengungen unterdrückt werden und bei Marietta, die da längst in einem gut bürgerlichen Leben angekommen ist, das Gefühl verursachen, sich „auf dünnem“ Eis zu bewegen. Schnell ist auch klar, dass es sich um ihren Sohn Johann aus erster Ehe handelt, der von einem russischen Soldaten erschossen worden ist, bevor sich die Soldaten an seiner Mutter vergangen haben.

Dieser Tatsache hat sich Marietta lange nicht stellen können, auch nicht mit der liebevollen Unterstützung ihres späteren Ehemannes Elias, der als Psychoanalytiker viel Verständnis und Geduld im Kontakt mit ihr aufbringt. Sie will und muss das Geheimnis für sich behalten.

An ihrem Geburtstag wird sie – auf einer Bank sitzend – gewahr, dass es inzwischen der Residenz gegenüber ein Flüchtlingslager gibt. Kontakt bekommt sie mit einem kleinen Flüchtlingsjungen, der immer wieder im Gebüsch auftaucht, sie ansieht, aber nicht spricht. Er erinnert Marietta an ihren erschossenen Sohn und sie beginnt sich für ihn und sein Schicksal zu interessieren. Hilfe bekommt sie von einer engagierten Fotografin, die als Volontärin einen Bericht in der Stadtzeitung über ihren Geburtstag schreiben soll.

Eine weiteres herausforderndes „Ereignis“ ist der neue Nachbar, Herr Tacke, der das Zimmer ihrer verstorbenen Freundin Gisela bezogen hat. Sein an ein Hitlerbärtchen erinnernder Schnurrbart lässt sie in einen emotionalen Widerstand gehen, den sie nur sehr langsam und behutsam abbauen kann, als sie sich auf einen Kontakt mit ihm einlässt, weil sie von Heimmitarbeiter*innen darum gebeten worden ist. Und auch er hat seine lang gehüteten, mit Schuld behafteten Erinnerungen, die er bisher noch niemandem mitteilen konnte. Angesichts seines baldigen Todes beginnt er dann allerdings, sich zu öffnen.

Der Roman erzählt, wie lange vom krieg wie auch immer betroffene Menschen über ihre Erlebnisse meinen schweigen zu müssen, aus sehr unterschiedlichen Gründen etwa von von Scham und/ oder Schuld. Es wird auch deutlich, dass in Beziehungen da immer etwas Unausgesprochenes wirkmächtig ist, ohne dass Beteiligte diese Wirkmächtigkeit entkräften, entzaubern können.

Leider ist die Art, wie Theres Essmann diese Sprachlosigkeit erzählt auf Dauer – zumindest für mich als erfahrene Leserin von Romanen, die sich dieser Thematik widmen – langweilig, da viel zu lange schon klar ist, was da passiert ist. Und der Roman macht für mich die innere emotionale Landschaft Mariettas nicht deutlich, erzählt eher das bereits lange schon Offensichtliche. Und das langweilt mich.

Als Einstieg in diese Thematik und für Leser*innen, denen das Kennenlernen innerer Seelenandschaften keine Anliegen ist, ist es sicher eine interessant erzählte Lektüre.
Die Aufmachung dieses Romans entspricht den hohen Standards des Dörlemann Verlages: praktisches Format mit Leineneinband und farblich passendem Lesebändchen.

Theres Essmann, Dünnes Eis, Roman, Dörlemann, Zürich 2023, 288 S., ISBN 978-3-03820-902-7

14 Gedanken zu „Theres Essmann, Dünnes Eis

  1. Das ist interessant! Ich kenne Theres Essmann, bei ihr habe ich Schreibwerkstätten besucht. Aber ich mag dennoch ihre Schreibe nicht. Als Referentin ist sie super. Sie lässt alles gelten und gibt tolle Tipps. Ich danke dir für deine Rezension, weiß ich so, dass ich das Buch mir, wenn überhaupt, nur in der Bücherei ausleihen werde.

    1. Kannst du schreiben, warum du ihre Schreibe nicht magst?
      Ich persönlich empfand sie auch als langweilig, weil wenig originell, etwa ihre Metaphern, und ab und an hatte ich das Gefühl, bereits zu wissen, wie die Sätze weitergehen.
      Der Inhalt selbst wäre in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Das, worum es darunter wirklich gehen könnte, das macht die Autorin für mich nicht sichtbar.

      1. Sie ist mir zu langatmig und auch zu träge. Wie du schreibst, wenig originell und manchmal fehlt mir der Esprit – der Kick zum weiterlesen. Ich habe Federico Temperini gelesen und lange dafür gebraucht. Ich dachte; es liegt an mir, weil andere Leserinnen begeistert waren. Aber Geschmäcker sind zum Glück sehr verschieden.

  2. Danke für die Buchbeschreibung.
    Die Thematik wäre sicher spannend und tragisch genug, um mehr aus dem Stoff zu machen.
    Nun denke ich, dass mir deine Zusammenfassung genügt und ich mir den wohl zu breit getretenen Inhalt erspare.
    Einen lieben Sonntagnachmittagsgruss,
    Brigitte

    1. Wenn man nicht ein Interesse daran hat, so etwas wie vergleichende Literaturwissenschaft zu betreiben, findest man sicher Romane, die das Thema weitaus spannender und interessanter erzählen.
      Herzliche Abendgrüße

  3. Was diese Träume betrifft, so gibt es drei sehr mächtige Götter und 1000 namenlose Götter. Die namenlosen Götter sind für den Pöbel zuständig und die 3 mächtigen Traumgötter kümmern sich um die Träume der Könige, Fürsten und alle weiteren Hochgestellten dieser Welt. Der mächtigste Traumgott heißt Morpheus, bekannt aus den Matrix-Filmen

        1. Du etwa nicht?
          Auf diese Träume:

          „Durch diese regelmäßigen, nächtlichen Erinnerungstouren, in denen sich gegenwärtige und frühere Erlebnisse vermischen, wabern auch auch ihre nächtlichen (Alb-)Träume und Tagträume.“

          1. Achso: Diese Träume gibt es natürlich auch in der Variante Albträume. Wobei ich nie so richtig weiß, ob es Albträume oder Alpträume geschrieben wird.

  4. Die Thematik klingt überaus interessant, vor allem auch, weil ich mich gerne mit Literatur beschäftige, die Menschen zeichnet, welche sich traumatischen Ereignissen verschließen – und dann doch stellen müssen.
    Allerdings stelle ich mit zunehmendem Lese- und Lebensalter fest, dass ich durchaus schon recht wählerisch bin, wie Inhalte aufbereitet sind. Dazu habe ich meine Wünsche – und ich habe das Gefühl, dass ich diesen Roman ähnlich wie Du erleben würde.
    Deine wie immer aufschlussreiche Rezension tut’s eigentlich schon und ich vermute, dass ich wohl auch ungeduldig werden würde … weil Offensichtliches so lange hinausgeschoben wird.
    Abendliche liebe Grüße, C Stern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert