Wolf Haas, Müll

Wolf Haas, Müll

„Vorigen Sommer bin ich einmal am See unten gesessen, die kleine Bucht da gleich neben der Straße, wo nie Leute sind, weil es so viele Glasscherben anschwemmt. Nur ein Vater mit einem kleinen Kind war noch da, so ein vierjähriges Mädchen dürfte das gewesen sein. Auf einmal hör ich sie (sic!) fragen, warum da so viele Perlen auf dem Boden liegen. Weil keine scharfen Glasscherben, sondern schön vom Wasser abgeschliffen.“

Der Vater erzählt dem kleinen Mädchen etwas vom vollen Schmuckkästchen einer Prinzessin, die auf dem Seegrund in einem Palast lebt. Der Erzähler allerdings weiß um die Wahrheit, die er aber einem kleinen Mädchen nicht zumuten könnte:

„Weil furchtbare Geschichte, da kannst du als Kind einen lebenslangen Schock davontragen, frage nicht. Aber dir kann ich es ja schnell erzählen.“

Aber schon hier spürt man als Adressat, dass es auf keinen Fall schnell erzählt ist:

„Schön eins nach dem anderen. Man kann ja nicht alles gleichzeitig verstehen. Es braucht immer ein Hintereinander bei den Gedanken. Ein Hintereinander und ein Nebeneinander. Aber kein Durcheinander. Und am allerwichtigsten eine klare gedankliche Unterscheidung.

Denn sehr genau beobachtet der Erzähler, lässt einen teilhaben an seinen sprudelnden Gedanken, ihrer Entstehung und Entwicklung, an seinen Ein- und Ansichten, seinen Bewertungen sowohl der Geschehnisse als auch der daran beteiligten Personen. Und die ergeben ein ganzes Arsenal:
Zum einen ist da die Mannschaft des Mistplatzes, die – auf verschiedene Müllwannen verteilt – eines Tages diverse menschliche Körperteile findet. Unter ihnen auch der wohnungslose ehemalige Kommissar Brenner, der sich als „Bettgeher“ während der Abwesenheit der Mieter oder Wohnungsbesitzer in leerstehenden Wohnungen einquartiert:

„Du musst den Mut haben, in die Leere hineinzugehen. Die Leute ahnen gar nicht, wer bei ihnen wohnt, während sie im Wochenendhaus sind. Geschickt machen musst du es schon.“

Dann die beiden Ermittler Savic und Kopf, dessen Ausbilder Brenner vor Zeiten gewesen ist, und natürlich diverse potentielle Täter im privaten Bereich des Opfers, aber später dann auch in der Firma, die die Pakete angeliefert hat, in denen die Körperteile versteckt waren. Da dem ersten Opfer das Herz fehlt, das dann im Kühlschrank der Geliebten auftaucht und dort erst relativ spät entdeckt wird, entsteht der Verdacht, es könne sich bei dem möglichen Motiv um Organhandel handeln.

In diesem Zusammenhang erfährt man dann als LeserIn von der Zustimmungsregel in Deutschland und der Widerspruchsregel in Österreich und den damit verbundenen juristischen Komplikationen, wenn ein Österreicher in Deutschland bzw. ein Deutscher in Österreich verunfallt und die Organe für eine Transplantation entnommen werden könnten.
Natürlich kennt der Erzähler auch die Diskussionen um den Hirntot und klärt auf seine unnachahmliche Art auf:

„Wie tot ist der Hirntote im Vergleich zu einem richtigen Toten? Weil nur einem Hirntoten kannst du die Organe entnehmen. Ein Toter nützt dir nichts, ein Lebender nützt dir auch nichts. Sondern du musst so gerade dazwischen sein, verstehst du? Und da scheiden sich eben die Geister. … Ein Herzkranker will es nicht einsehen, dass so ein Hirntoter sein Herz nicht hergibt. Ein Hirntoter will es nicht einsehen, dass er ausgenommen wird wie eine Weihnachtsgans. Oder seine Angehörigen wollen es nicht einsehen. Die sagen, das Hirn ist vielleicht tot, aber das andere zählt auch, das Hirn ist ja nicht alles.“

Es ist ein in jeder Hinsicht außerordentlicher Krimi, sprachlich mit seinem ungewöhnlichen Gebrauch von Verben, die zum Teil unvollständig sind, ganz fehlen, weil’s sonst zu – offensichtlich für unnötig gehaltenen – Wiederholungen von Hilfsverben käme, wenn im Perfekt erzählt wird, seinem schwadronierenden Plauderton des Erzählers, dem man die innere Freude am Erzählen anmerkt, der kunstvollen Jonglierkunst mit Wörtern in einem Satz, immer auf der Suche nach dem sprachlich passenden Ausdruck beim Erfassen einer komplexen Wirklichkeit. So kreiert der Erzähler dann auch zahlreiche neue WortE, etwa „Müllbuddhismus“, „Bettgeher“, „Hirneinschläferer“ …

Auch die Gestaltung der Handlung durch diverse Andeutungen – der Erzähler weiß ja von Anfang an, was passiert ist und wie die Ermittlungen ausgehen: „Jetzt, wo es verjährt ist, muss man wenigstens keine Angst mehr haben, dass man etwas Falsches sagt.“ – retardierende Momente in Form eigener Überlegungen, der Wiedergabe von Gedanken der am Geschehen beteiligten, einer Verfolgungsjagd mit ungewissem Ausgang und von diversen Nebenhandlungen tragen zu dieser Ungewöhnlichkeit bei.

An den Erzählton musste ich mich erst gewöhnen und auch an das genaue Lesen, da man beim manchmal auch etwas langatmigen Schwadronieren des Erzählers wichtige Details überlesen könnte.
„Müll“ ist der achte Brenner- Krimi. Für mich ist es der erste, den ich gelesen habe. Bin aber sicher, das weitere folgen werden.

Wolf Haas, Müll, Roman, Hamburg 2022, 287 S. ISBN 978-3-455-01539-3

7 Gedanken zu „Wolf Haas, Müll

  1. Mir tut das sprachlich weh beim Lesen.
    Aber vielleicht müsste man – wie du – Zeit und Geduld dafür aufbringen. (Ich mag das eher nicht in diesem Fall. :–))
    Dennoch vielen Dank fürs Bekanntmachen.
    Einen lieben Nachmittagsgruss,
    Brigitte

  2. ach, mir tut das (ernsthaft) weh … diese reaktionen zu lesen.

    zufällig hab ich gestern abend eine ähnliche situation erlebt – eine dame, die klassische musik sehr liebt, ist wohl zufällig in eine sendung über moderne musik „gefallen“. ihr abfälliges entsetzen (das ist doch keine musik!!) hat mich getroffen. wobei ich nichts von musik verstehe. aber von der abfälligkeit gegenüber allem, das nicht aufs erste ins ohr geht.

    du fragst: „muss das sein?“

    ich würde gern antworten: frag doch genau hier weiter. und zwar in der annahme, dass es so sein muss, sonst hätte haas es nicht so geschrieben. dann käme die warum-frage und dann vielleicht ein neues, tieferes verstehen/verständnis von sprache, sprachformen, funktionen … dann muss man das ja immer noch nicht mögen, aber vielleicht erschließt sich auch ein weiteres (hier: sprach-) feld, das über das 19. und frühe 20 jhdt. hinausgeht.

    mit grüßen aus österreich,
    andrea

  3. Ich verstehe durchaus, was du meinst, Andrea.
    Und ich habe auch nichts gegen Neuerungen und Experimente in Kunst, Musik und Literatur.
    Dennoch nehme ich mir die Freiheit, auch etwas „Literarisches“ nicht zu mögen.
    Wenn es in einer Buchbesprechung von Rainer Moritz in der NZZ heisst: „das kunstvoll-komische Spiel mit der Sprache und seiner Abneigung gegen das Realistische und Handlungsorientierte…“, dann frage ich mich schon, ob diese Art von Sprache in einen Kriminalroman passt …
    Natürlich darf man daran Freude haben wie die begeisterten Haas-LeserInnen, aber man muss den Stil von Wolf Haas dennoch nicht unbedingt mögen. :–)
    P.S. Den Krimi habe ich nicht gelesen. Vielleicht würde mich die Lektüre eines Anderen belehren …
    Dies als kleine Beschwichtigung.
    Gruss, Brigitte

  4. Holla, da sind jetzt aber eine Menge an Annahmen, man könnte auch Unterstellungen sagen, in deinen Ausführungen.
    Ich kann ja nur von mir reden: Mein Sprachfeld geht schon weit bis ins 21. Jahrhundert hinein, so etwa hat mir „Blutbuch“ außerordentlich gut gefallen.
    Und ich glaube, dass man in meiner Buchbesprechung eine Menge an Wertschätzung lesen kann, sonst hätte ich sicher nicht geschrieben, dass ich weitere Romane von ihm lesen möchte.
    Herzliche Grüße zu dir nach Österreich

  5. Was Sprache betrifft, kann ich mich zu Wolf Haas mangels eigener Lese-Erfahrung nicht äußern. Brenner kenne ich allerdings aus dem Kino.

    Sprachlich Gewebtes habe ich bereits Unterschiedlichstes gelesen, wobei ich doch je nach Roman-Genre meine Vorlieben habe, aber auch nichts gänzlich ausschließen möchte.
    Ein ziemlich radikales Sprachgewebe fand ich mal in einem Buch, das allerdings auf ganz realen Tatsachen fußt: „Blauschmuck“, Katharina Winkler. Eine sprachlich sehr reduzierte Geschichte über Frauen, die in Gewalt-Beziehungen leben. Hat mich in vielerlei Hinsicht nie mehr ausgelassen.
    Liebe Grüße,
    C Stern

    1. Das Wort „Sprachgewebe“ kommt in meinen „Wortzettelkasten“, es gefällt mir außerordentlich gut.
      Sprachliche Reduzierung muss ja auch nicht per se ein Mangel sein.
      Herzliche Grüße

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