
Annie Ernaux, Die Scham

„Sprache ist nicht Wahrheit, sondern reflektiert unser Dasein in der Welt.“
Dieses Zitat von Paul Auster ist dem 1997 in Paris erschienen, 111 Seiten langen Roman von Annie Ernaux vorangestellt. Er erzählt von einem einschneidenden, die gesamte weitere Existenz der 12 jährigen Annie prägenden Erlebnis, mit dem auch der Roman – wie bei einer Short Story – völlig unvermittelt beginnt:
„An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“
Alles sonst war wie immer am 15. Juni 1952, als Annie sieht, wie ihr Vater ihre Mutter nach einem Streit während des Mittagessens packt „und mit rauer, fremder Stimme schrie“. Sie flieht in den ersten Stock, eilt dann aber ihrer Mutter zu Hilfe, die nach ihr brüllt, während der Vater die Mutter mit der einen Hand gepackt hält und mit der anderen Hand ein Beil.
„Ab hier erinnere ich mich nur noch an Tränen und Geschrei. Dann sind wir wieder alle drei in der Küche.“
Erst Jahre später ist die Ich-Erzählerin in der Lage, diese Szene, wie sie dieses Ereignis benennt, aufzuschreiben. Nicht einmal ihrem Tagebuch hatte sie diesen Vorfall anvertrauen können. Schreibend nähert sie sich „dieser Szene“ an, die „wie ein Filter zwischen mir und allem was ich erlebte“ lag. „Ich spielte, las, verhielt mich wie immer, aber ich war nicht bei der Sache. Alles fühlte sich künstlich an.“
Ab da begreift sie es als ihre Aufgabe zu verhindern, „dass mein Vater meine Mutter umbrachte und ins Gefängnis kam.“
Wie immer erzählt Annie Ernaux in schlichter, aber eindringlicher Sprache von einem autobiografischen Ereignis, das trotz der Individualität allgemein für die Verletzlichkeit einer (kindlichen) Seele steht. Der Umgang mit dieser „Szene“, die Verarbeitung entspricht in weiten Teilen den verschiedenen Abschnitten bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse.
Gleichzeitig entsteht ein bedrückendes gesellschaftliches Portrait der fünfziger Jahre mit all den vorherrschenden Normen, mit denen Menschen be- und verurteilt wurden, ohne jedes Bemühen um ein Verstehen, mit dem Verschweigen, dem Wegducken vor allem, was herrschenden Normen widersprach. Man durfte Leute
– nicht stören
– nicht vor den Kopf stoßen
– musste mit anderen zurechtkommen …
meist aber ohne konkrete Handlungsanweisungen. Eher konnte man erst durch Sanktionen merken, dass man nicht richtig gehandelt hatte.
Seiten, die in mir Erziehungskriterien der schwarzen Pädagogik, wie sie offensichtlich nicht nur in Deutschland vorherrschend waren, wieder haben „hochploppen“ lassen. Eine Möglichkeit zu erfahren, wo man selbst noch zu triggern ist oder besser: Wo es noch etwas zu heilen gibt.
Insgesamt also: Für mich ein äußerst eindrücklicher, lange nachhallender Roman.
Annie Ernaux, Die Scham, a.d. Französischen v. Sonja Fink, Frankfurt/M. 3. Aufl. 2022, 111 S., ISBN 978-3-518-47180-7
6 Gedanken zu „Annie Ernaux, Die Scham“
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass dieses autobiografische Buch packend ist.
Meine eigenen Erinnerungen sind sehr ähnlich. Diese sind zwanzig Jahre später angesiedelt, also in den 1970er Jahren.
Ich bin sicher, weil ich erlebt habe, was es heißt, schutzlos zu sein, ist es mir so wichtig, aufzuzeigen! Soviel Gewalt, die Kinder ertragen müssen – nur, weil andere wegschauen und weil die Gesellschaft noch nicht bereit ist, patriarchale Strukturen zu ächten bzw. deren brutale Auswüchse konsequenter zu bestrafen.
Liebe, abendliche Grüße! C Stern
Und da war ja auch viel subtile Gewalt im Spiel, die machmal gravierender war als die offensichtlichen „Ohrfeigen, die ja noch nie jemandem geschadet, sondern eher das Denkvermögen verbessert haben“ – schon allein die vielen Euphemismen, die gebraucht wurden, um das, was da an Gewalt ausgeübt wurde, klein zu reden …
Das prägt.
Liebe Grüße und einen Tag mit vielen kleinen Glücksmomenten
Danke für diese unter die Haut gehende Besprechung.
Was für ein traumatisierendes Erlebnis so etwas für ein Kind sein muss, kaum auszuhalten.
Und man kann nur erahnen, wie oft so etwas (oder Ähnliches) geschieht und seelische Schäden hinterlässt…
Einen lieben Heutegruss,
Brigitte
Verheerend finde ich vor allem, dass viele Erwachsene sich dessen entweder nicht bewusst sind oder es einfach klein reden, sich so oder so aus der Verantwortung ziehen.
Wünsche dir einen sonnigen Tag mit vielen liebevollen Momenten
Das klingt interessant!
Liebe Grüße, Andrea
Ist es m.E. auch,
dennoch schwer verdaulich.
Liebe Grüße