Wiedergelesen: Albert Camus, Der Fremde

Wiedergelesen: Albert Camus, Der Fremde

„L‘ étranger“ habe ich vor Urzeiten im Französischunterricht gelesen, wiedergelesen dann lieber auf Deutsch. Eine beeindruckende Lektüre, damals wie heute.

„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht.“

Mersault, Büroangestellter in Algier, Ich-Erzähler und Sohn der Verstorbenen, fährt zu dem Heim, in dem seine Mutter vor ihrem Tod gelebt hat. Er hält Totenwache am geschlossenen Sarg, denn sehen will er seine Mutter nicht mehr. Am nächsten Tag reiht er sich in den kleinen Trauerzug ein, beerdigt seine Mutter – ohne eine Träne zu vergießen – nimmt den nächsten Bus zurück nach Algier und lebt sein Leben, als sei nichts geschehen.

Mit seinem Nachbarn Raymond spricht und isst er ab und zu, ohne dass er zu ihm Nähe oder ähnliches empfindet. Sie verbringen einen Tag am Strand, begegnen einigen Arabern, die sich an Raymond rächen wollen, da er ihrer Meinung nach ihre Schwester gedemütigt hat. Bei einer Schlägerei nimmt Mersault Raymond dessen Pistole ab, um ihn daran zu hindern, den Araber zu erschießen. Später trifft Mersault während eines Strandspazierganges in brütender Hitze auf die Gruppe der Araber und in einem Handgemenge erschießt Mersault einen von ihnen, durch dessen Messer er sich bedroht fühlt.

In dem sich anschließenden Gerichtsverfahren erkennt der Leser sehr bald, dass Mersault sich mit seiner Teilnahmslosigkeit, seiner Unfähigkeit, Gefühle überhaupt und Reue im besonderen zu zeigen, sich immer mehr die Schlinge um den Hals legt. Es geht irgendwann nicht mehr darum, aus welchen Motiven heraus er den Araber erschossen hat, sondern alle Beteiligten sitzen über seinen Charakter, seine Persönlichkeit, seinen Lebenswandel zu Gericht, der von dem, was die Gesellschaft damals als „normal“ ansieht, ziemlich abweicht. Die Teilnahmslosigkeit des Angeklagten ist zutiefst verstörend für alle am Gerichtsverfahren Beteiligten.

Da erstaunt es dann nicht, dass Mersault zum Tode verurteilt wird. Über dieses Urteil macht sich er sich kaum Gedanken, wohl aber über das „gute Funktionieren der Maschine“, denn:  „Wenn es ausnahmsweise nicht klappte, fing man noch einmal an. Folglich war das Ärgerliche dabei, dass der Verurteile das gute Funktionieren der Maschine wünschen musste.  … Es lag in seinem Interesse, dass alles reibungslos klappte.“

Den Priester, dem ihm Trost spenden will, schmeißt er aus seiner Zelle. Und erst, als dieser gegangen ist, fühlt er: „Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich ein wie eine Flut.“ und denkt seit langem mal wieder an seine Mutter.

„Als ich spürte, wie ähnlich sie mir war, wie brüderlich letzten Endes, habe ich gefühlt, dass ich glücklich gewesen war und dass ich es noch war.“ Sein letzter Wunsch ist, dass sich möglichst viele Menschen zu seiner Hinrichtung einfinden, damit er nicht so allein sei.

In sehr klaren, kurzen, einfachen Sätzen gibt der Ich-Erzähler Einblick in sein Inneres, auch dann noch, wenn er völlig emotionslos über das redet, was er gerade macht und denkt. Vom Fühlen ist nicht die Rede.

Albert Camus, Der Fremde, übersetzt von Uli Aumüller, Berlin 2011, 126 S., ISBN 978-3-942656-27-6

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