Heinrich Böll, Der Engel schwieg

Heinrich Böll, Der Engel schwieg

„Wie kommst du auf die Bücher, die du liest?“ wurde ich einmal gefragt. Manchmal – habe ich den Eindruck – kommen sie zu mir. Im Programmheft „Kopfüber – Weltunter“ der Ruhrfestspiele für 2017 fand ich unter Lesungen diesen Roman von Heinrich Böll, der von Günter Lamprecht und Claudia Amm gelesen wird. Ich kannte ihn noch nicht, weiß aber auch noch nicht, ob ich zu der Lesung gehen kann, also habe ich mir den Roman besorgt und gelesen.

Es ist ein wirklich beeindruckender Roman, der am Tag der Kapitulation, am 8. Mai 1945, beginnt. In dem Nachwort von Werner Bellmann, erfährt man auch, welche Hindernisse dieser Roman hat überwinden müssen, bis er nach dem Tod Heinrich Bölls dann doch noch erscheinen konnte. Teile dieses Romans sind in verschiedenen Zeitungen und anderen Erscheinungsorten als Kurzgeschichten veröffentlicht.

„Der Engels schweigt“ kommt nahezu auf leisen Sohlen daher, erzählt „nichts vom Krieg und kaum etwas von der Nachkriegszeit“ wie Heinrich Böll über diesen Roman gesagt hat. Und dennoch sind die äußeren und inneren Folgen des Krieges unübersehbar. Allein die Beschreibung, welchen Weg der Protagonist Hans Schnitzler, nehmen muss, um ein handschriftlich verfasstes Testament eines anderen Kriegsteilnehmers an den rechtmäßigen Adressaten zu bringen, lässt den Leser die Verwüstungen erkennen, die der Krieg in der namentlich nicht genannten Stadt Köln hinterlassen hat.

Schnitzlers Angst, entdeckt zu werden, weil er keine gütigen amtlichen Papiere vorweisen kann, er also jederzeit inhaftiert und ins Gefangenenlager kommen kann, ist allgegenwärtig wie sein bohrender, ständig auf der Lauer liegender Hunger:

„Die Aussicht, etwas zu essen zu bekommen, hatte den Hunger wieder lebendig gemacht; er kam hoch: dieses seltsam heftig gähnende Nichts, das seine Backen wie in einem Krampf zusammenfahren ließ: diese Wolke aus Luft, dieses fordernde Aufstoßen, das einen üblen Geschmack im Munde hervorrief und ihn zugleich mit Hoffnungslosigkeit erfüllte: Essen, dachte er, ist eine unerbittliche Notwendigkeit, die mich mein Leben lang verfolgen wird; dreißig, vierzig Jahre lang würde er noch täglich essen müssen, mindestens einmal, Tausende von Mahlzeiten waren ihm noch auferlegt, die er sich besorgen mußte, irgendwie: eine Kette von Notwendigkeiten, die ihn mit Schrecken erfüllte.“

Er trifft auf die Frau, deren Mantel er in einem Krankenhaus gefunden und gegen die Kälte übergezogen hat. Erst einen Tag zuvor ist ihr Baby gestorben. Sie nimmt ihn auf, weil sie nicht allein sein will und sorgt für ihn. Zwischen beiden entwicklen sich langsam Zuneigung und so etwas wie Liebe.

„Mit einem Glück, daß er nie gekannt hatte, fühlte er, daß es warm war und daß er niemals frieren würde, wenn er bei ihr schlief.“

Keiner der beiden redet über sich, seine Vergangenheit, die damit verbundenen Verletzungen und ihre nahezu unendliche Müdigkeit, fast zu müde um zu leben. Sie versucht, ein wenig Sauberkeit und Ordnung in ihr kleines Reich zu bekommen:

„Sie fühlte, daß ihr die Tränen kamen, ein unbekanntes schmerzhaftes Gewölle der Verzweiflung ihre Kehle füllte, ein Wulst von Schmerz, der heraus wollte, aber sie würgte ihn hinunter und ging mit zuckendem Gesicht wieder an die Arbeit. … Dieser Trieb nach Ordnung und Sauberkeit war ganz neu, und sie wußte, daß es sinnlos war. … Eine Unendlichkeit von Schmutz tat sich auf, die ihr jetzt schon Verzweiflung verursachte, und gegen den anzukämpfen sinnlos war.“

Es ist ein Buch, das spät – an manchen Stellen sicherlich zu spät – helfen könnte, die Nachkriegsgeneration in ihrem Verhalten als Folgen ihrer Kriegserfahrungen zu verstehen, über die aber in den Jahren nach dem Krieg kaum geredet wurde, weder privat noch im öffentlichen Raum. Es lässt aber darüber hinaus die allgemein menschlichen Aspekte und Tragödien eines jeden Krieges sichtbar und spürbar werden und ist damit aktueller denn je. Denn überall auf der Welt erleben Menschen diese Kriegszustände mit Hunger, Zerstörung Angst und Verfolgung als Konsequenzen und sind auf menschliche Hilfe angewiesen, um zu überleben. Leider hat man sich vielleicht schon an die Bilder gewöhnt, doch die Folgen nachempfinden zu können, öffnet dann noch einmal andere Dimensionen.

Heinrich Böll, Der Engel schwieg, Roman, mit einem Nachwort von Werner Bellmann, 9. Aufl. München 2014, 211 S., ISBN 978-3-423-12450-8

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