Ingrid Müller-Münch, Die geprügelte Generation

Ingrid Müller-Münch, Die geprügelte Generation

„Ein Klaps hat noch nie jemandem geschadet.“ Wer ist nicht schon einmal diesem blöden dummen Spruch begegnet?
„Die Schläge tun mir mehr weh als dir, sie sind doch nur zu deinem Besten.“ Wer hat diesen Satz als Kind nicht mehrfach gehört?

Ingrid Müller-Münch stellt in diesem Buch eine geprügelte Generation dar, für die Schläge so normal, so an der Tagesordnung waren, dass sie kaum darüber gesprochen hat. Prügel waren normaler Teil des (Kinder-) Alltags in den 50igern und 60igern des 20. Jahrhundert, nahezu alle wurden überall geprügelt: zu Hause, im Kindergarten, in der Schule, in Internaten, in Erziehungsheimen und Waisenhäusern. Prügel waren gängige Erziehungsmittel, gedeckt durch Staat und Kirche.

Müller-Münch geht auf die Folgen dieser Prügel ein, zeigt auf, dass diese geprügel-ten Kinder bis ins Erwachsenenalter unter Depressionen, Minderwertigkeitsgefühlen, Autoaggressionen oder Gewaltneigungen zu leiden haben. Theresia z.B.  „wurde in ihrer ganzen Kindheit das Gefühl nicht los, ‚ ich bin irgendwie nicht richtig. Also ich kann nie so sein, dass es richtig ist. Ich wusste nicht genau, wie das sein sollte, aber es kam mir immer so vor, als würde ich es einfach nicht schaffen.‘ “ Selbst ihrer alten Mutter kann sie es nicht recht machen: „Wieder war es nie genug was ich machte für meine Mutter.“  Und wieder fühlt sie sich schuldig, hat aber mittlerweile gelernt, sich zu distanzieren und für sich selbst zu sorgen.

Die Autorin führt zahlreiche Interviews, in denen  sie herauszufinden versucht, auf welche Art und Weise Kinder diese Misshandlungen ausgehalten, bewältigt haben. Sie haben sich Überlebensinseln geschaffen, auf denen sie sich – zumindest innerlich – den Zugriffen der Eltern entziehen konnten, indem sie z.B. Tagebuch geschrieben haben, von zu Hause weggelaufen sind, aber auch die Kraft des NEINs, des Widerstandes gegen die Eltern als mögliche Strategien entwickelt und auf einmal die Ohnmacht der prügelnden Eltern gesehen haben.

Warum Eltern Prügel, Bestrafungen, Demütigungen tatsächlich als Fürsorge gesehen haben, wird deutlich,wenn Müller-Münch versucht darzustellen, wie diese Kriegsgeneration aufgewachsen ist, mit welch braunen Erziehungsvorstellungen sie erzogen wurde und warum Reden nicht möglich war, da die Eltern selbst oft traumatisiert waren. Diese Informationen als Möglichkeit des Verstehens haben die Geprügelten als Kinder nicht zur Verfügung gehabt, so dass sie den für sie offensichtlich ungerechten, willkürlichen Prügeln hilflos ausgesetzt waren und alles Mögliche unternommen haben, sie zu vermeiden, ohne wirklich zu wissen wie.

Müller-Münch weist ausdrücklich auch auf seelische Misshandlungen hin, denen Kinder entweder zusätzlich ausgeliefert waren oder die Schläge und Prügel ersetzten mit den gleichen Folgen wie körperliche Beeinträchtigungen, nur äußerlich nicht sichtbar, denn einer geprügelten kindlichen Seele sieht man die Misshandlungen nicht an.

Es mag ein Buch sein, das Verständnis für die Prügelnden aufbringt, ohne damit die Folgen für die Geprügelten zu verkleinern. Es ist auf jeden Fall ein Buch, das Licht ins deutsche  Wirtschaftswunderland bringt, das auch ein prügelndes Nachkriegs-deutschland war. Die 68iger brachten dann allmählich die Wende und verursachten längst notwendige gesellschaftliche Veränderungen, auch in der Erziehung. Wie lange Misshandlungen von Kindern noch gesetzlich gedeckt waren, vor allem aber in den Köpfen der Erziehenden Alltag war, haben die Skandale in den letzten Jahren deutlich gemacht. Mit Hilfe des Buches wird auch für Nichtbetroffene deutlich, warum misshan-delte Kinder sich so schwer tun, davon zu reden.
Ein längst überfälliges Buch.

Ingrid Müller-Münch, Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen, Stuttgart 2012, 284 S. inklusive Anmerkungen und Literatur zum Thema, ISBN 978-3-608-94680-2

6 Gedanken zu „Ingrid Müller-Münch, Die geprügelte Generation

  1. Ja. Und wie gesagt, heute Abend im WDR wird in der Sendung frau-tv noch einmal darauf eingegangen. Leider ist auch für mich das Buch wichtig. Schön, dass hier darüber gesprochen wird…
    Gruß von Sonja

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