Jan Costin Wagner, Sommer bei Nacht
Für mich ist „Sommer bei Nacht“ der erste Krimi von Jan Costin Wagner, aber auf keinen Fall der letzte.
Marko geht mit zwei sehr großen Teddybären über das Gelände eines Schulhofs, auf dem gerade ein Flohmarkt stattfindet und wird von Jannis, einem fünfjährigen Jungen angesprochen:
“ ‚Dein Teddy?‘ …
‚Ja‘, sagt er.
Er reicht dem Jungen den Teddy, nimmt seine Hand. Etwas rastet ein. Seine Hand in der Hand des Jungen und noch etwas. Etwas anderes. …
Sein Wagen steht in der Seitenstraße. Er versetzt dem Jungen einen Schlag gegen die Schläfe, bevor er ihn auf die Rückbank legt.
Er steigt ein, startet den Motor, fährt los. Entfernt sich. „
Man weiß also von Anfang an, wer der Täter ist, ahnt, was er mit dem Jungen vorhat und dennoch bleibt man als Leser lange Zeit im Unklaren darüber, was genau Marko mit Jannis machen will und ob der Junge noch lebend gefunden wird oder nicht.
In der Zwischenzeit begleitet man die Ermittler Ben Neven, Christian Sandner, Mark Lederer und den ehemaligen Kommissar Landmann bei ihrer Arbeit, bei der Auswertung der Akten, Videos, ihren Überlegungen, Arbeitshypothesen, begleitet sie auf ihren Dienstreisen, lernt ihre tiefsten Gedanken, ihre Geheimnisse, ihre Schwächen und Befürchtungen kennen und ihre jeweilige Art, damit umzugehen. Und gerät ins Staunen und Grübeln, denn Ben Neven ist ein Polizist mit pädophilen Neigungen, von denen niemand wissen darf.
Verwoben werden diese Perspektiven mit denen von Jannis Familienmitglieder, mit der des Entführers und seines Protektors Holdner, Hausmeister eines großen Mietshauses, in der Nähe eines Campingplatzes und weiteren Personen. Es ist, als stecke man in ihren Köpfen, würde aus ihrer Sicht auf das Geschehen blicken, ihre Gefühle, Ängste, vor allem ihre Unsicherheiten teilen.
Hinzu kommt dann noch ein weiterer, früherer Fall von Kindesentführung, der deutliche Parallelen aufweist. Der Junge einer Flüchtlingsfamilie wurde nie gefunden. Seine traumatisierten Eltern leben noch immer mit der Ungewissheit, was mit ihrem Sohn passiert ist. Die Ermittler der österreichischen Behörden war nur mäßig engagiert. Die aktuellen Nachforschungen werden Klarheit bringen.
In diesem feinsinnigen Kriminalroman verarbeitet Wagner aktuelle brisante Themen, ohne unnötig zu emotionalisieren oder zu moralisieren. Wagners sprachliche Darstellung ist ebenfalls ungewöhnlich. Immer wieder macht er mit einfachen Worten, mit Wortwiederholungen, Satzfetzen Gedankenströme der jeweiligen Personen deutlich und zeichnet damit ein sehr klares Psychogramm dieser Menschen, ohne es explizit auszusprechen. Der Leser soll ja schließlich auch noch etwas zu ermitteln haben.
Jan Costin Wagner, Sommer bei Nacht, Galiani Verlag, Berlin 2020, 313 S., ISBN 978-3-86971-208-6