Jodi Picoult, Kleine große Schritte

Jodi Picoult, Kleine große Schritte

Der Titel dieses Romans lässt Assoziationen an Worte von Martin Luther King Jr. anklingen:
„Wenn ich schon nichts Großes bewirken kann, kann ich doch auf großartige Weise kleine Schritte machen. “


Jodi Picoult erzählt die (Lebens-) Geschichte der erfahrenen, dunkelhäutigen Hebamme Ruth Jefferson, die zu den besten Säuglingsschwestern des Mercy-West Krankenhauses in Conneticut gehört und stolz darauf ist, was sie – trotz ihrer Hautfarbe – in ihrem Leben durch Leistung, Disziplin, vor allem aber aus Liebe zu ihrem Beruf geschafft hat. Darin war und wollte sie immer auch Vorbild für ihren Sohn Edison sein, den sie nach dem Tod seines Vaters – er ist während eines Einsatzes als Soldat der US Army gefallen – allein erziehen muss:

„Unablässig habe ich Edison versprochen, dass man sich durch harte Arbeit und gutes Verhalten seinen Platz in der Gesellschaft sichern kann. Ich sagte ihm, wir seinen keine Blender und hätten das, wonach wir streben und was wir bekommen, auch verdient. Was ich ihm allerdings nicht gesagt habe, war, dass diese Errungenschaften uns jederzeit entrissen werden können.“

Und genau das passiert ihr. Sie soll die Neugeborenenerstuntersuchung von Davis Bauer durchführen. Anschließend bestehen die Eltern, Turk Bauer und seine Frau Brittany, aufgrund ihrer rechtsradikalen Gesinnung darauf, dass Ruth ihr Kind nicht mehr versorgen darf. „Das ist eine Diskriminierung.“, bekommt er als Antwort. Doch er besteht drauf, das Krankenhaus sei schließlich ein „Dienstleistungsunternehmen, und ich bin der Kunde. Und sie tun das, was für den Kunden angenehm ist.“

Als Ruth das nächste Mal die Krankenakte aufschlägt muss sie Folgendes lesen:

„KEINE BEHANDLUNG DIESES PATIENTEN DURCH AFROAMERIKANISCHES PERSONAL.“

Ihre Vorgesetzte versucht, den Vorfall zu entpersonalisieren. Doch Ruths Frage. „Welches afroamerikanische Personal haben wir sonst noch auf dieser Station?“ bringt die Sache auf den Punkt.

Doch dann passiert das Tragische wie in einer griechischen Tragödie. Nach der Beschneidung von Davis Bauer ist Ruth allein auf der Station und soll den kleinen Jungen im Auge behalten, bis die für ihn zuständige Krankenschwester, die zu einem Notkaiserschnitt abgeordnet worden ist, zurück ist. Und dann setzt Davis Atmung setzt. Ruth ist in einem Dilemma gefangen. Soll sie sich an die Anordnung halten oder ihrem Eid folgen, dem sie sich als Krankenschwester verpflichtet fühlt?

Der Junge stirbt. Seine Eltern können sich mit diesem Schicksalschlag nicht abfinden und suchen einen Schuldigen, einen Sündenbock. Sie beschuldigen Ruth des Mordes an ihrem Baby.Ruth wird nachts – überfallartig – aus dem Bett geholt, ihre Wohnung wird verwüstet. Sie wird noch im Nachthemd verhaftet und in Handschellen abgeführt. Im Nachthemd wird sie auch dem Haftrichter vorgeführt, der sie wegen Mordes anklagt. Das unverhältnismäßige Vorgehen der Polizei ist Ausdruck rassistisch geprägter Vorurteile, wie in einem späteren Verhör vor Gericht deutlich wird. Kennedy McQuarrie, eine Weiße, wird Ruths Pflichtverteidigerin. Sie hat das Ziel, ihren ersten Mordprozess auf jeden Fall zu gewinnen und es der knallharten, farbigen Staatsanwältin zu zeigen.

Jodi Picoult schildert aus der Sicht der Protagonisten diesen menschlich und juristisch so brisanten Fall und greift dabei auch auf deren Vergangenheit zurück, wohl damit der Leser erkennen kann, wie die Beteiligten zu ihrer Weltanschauung gekommen sind, die ihre Handlungsweisen erklären. Die Wirkung auf den Leser ist enorm. Sich mit den rassistischen, menschenverachtenden Ansichten des Rechtsradikalen konfrontiert zu sehen, verursacht nicht nur großes Unbehagen, sondern fast körperlich spürbaren Ekel, vor allem wenn man sich der aktuellen politischen Lage in vielen, auch europäischen Ländern bewusst ist. Gleichzeitig muss man sich – ehrlicherweise fragen – wenn man die Gedanken der Rechtsanwältin liest, wieviel versteckt rassistische Ansichten man eigentlich selbst hat.

Im ihrem Nachwort geht die Autorin ausführlich darauf ein, was für sie notwendig war, um diesen Roman überhaupt schreiben zu können, obschon sie sich bereit lange mit dem Thema des alltäglichen Rassismus auseinandergesetzt hat.

Der Roman bietet eine Fülle interessanter An- und Einsichten, auch in das komplizierte Auswahlverfahren des amerikanischen Rechtssystems bei der Suche nach „neutralen“ Zeugen. Der Roman ist gut lesbar geschrieben, enthält aber meines Erachtens erhebliche inhaltliche Längen, die zum Teil durch umständliche Formulierungen noch verstärkt werden. Das macht das Lesen bisweilen mühsam und fast langweilig, trotz des wirklich spannenden Inhalts.

Die charakterlichen Entwicklungen der Protagonisten sind sicher denkbar, aber im Falle des rechtsradikalen Turk Bauer, der von Saulus zum Paulus mutiert, in der präsentierten From kaum nachvollziehbar. Man wird eher an einen amerikanischen Film mit seinem scheinbar notwendigen happy end erinnert. Muss ich nicht haben, weil eher unglaubwürdig und beschönigend. Dennoch ein thematisch wichtiger Roman.

Jodi Picoult, Kleine große Schritte, Roman, a.d. Amerik. v. Elfriede Peschel, C. Bertelsmann Verlag, München 2017, 590 S., ISBN 978-3-570-10237-4

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