Julian Barnes, Lebensstufen

Julian Barnes, Lebensstufen

„Man bringt zwei Dinge zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden, und die Welt hat sich verändert. Vielleicht merken die Menschen es nicht gleich, aber das ist egal. Die Welt hat sich trotzdem verändert.“

Die Kapitelüberschriften verweisen auf die drei Dimensionen, in denen Dinge zusammengebracht werden können, die vorher nicht zusammen waren:
„Die Sünde der Höhe“,
„Auf ebenen Bahnen“ und
„Der Verlust der Tiefe“.

Es geht vordergründig zunächst ums Ballonfahren und die ersten Luftaufnahmen sowie um Roziers ersten gescheiterten Versuch, mit einem neuartigen Aerostat den Ärmelkanal von Frankreich nach England zu überfliegen. Und doch geht es eigentlich immer um menschliches Leben, um die Liebe,

„die zwei Menschen zusammmenbringt, die vorher nicht zusammengebracht wurden. Manchmal ist es wie jener erste Versuch, einen Wasserstoffballon an einen Heißluftballon zu koppeln: Man hat die Wahl zwischen abstürzen und verbrennen oder verbrennen und abstürzen. Aber manchmal funktioniert es, und etwas Neues entsteht und die Welt hat sich verändert.“

Das letzte Kapitel ist die Geschichte einer Liebe, die Liebe Barnes zu seiner Frau Pat, der das Buch auch gewidmet ist. Es ist eine Liebesgeschichte, die vom Ende her erzählt wird:

„Dann wird irgendwann, früher oder später, aus dem einen oder anderen Grund, einer von beiden weggenommen. Und was weggenommen wurde, ist größer als die Summe dessen, was vorher dagewesen war. Mathematisch mag das nicht möglich sein, aber emotional ist es möglich.“

Ein Wendekreis ist überschritten, eine neue Realität beginnt, auf die man sich nicht vorbereiten kann: Die Welt des Schmerzes, des Leids, der Trauer um den geliebten Menschen beginnt und die Suche nach einem Umgang mit dem Leid. Wie lernt man, mit etwas umzugehen, das fehlt, das aber dennoch vorhanden ist?

„Das können diejenigen, die den Wendekreis des Leids noch nicht überschritten haben, oft nicht verstehen. Wenn jemand tot ist, heißt das zwar, dass er nicht mehr am Leben ist, aber es heißt nicht, dass es ihn nicht mehr gibt.“

Dieses Büchlein ist eine schriftstellerische Form von Trauerarbeit, die genau diese – oft metaphorisch und mit Hinweisen auf die vorherigen Ballonfahrerkapitel – thematisiert. „Lebensstufen“ macht begreifbar, welche Kluft an Verständlnislosikeit zwischen denen entstehen kann, die den Wendekreis überschritten haben und denjenigenen, denen es bisher erspart geblieben ist, diesen Schritt tun zu müssen.

Vor allem das letzte Kapitel kann Trauernden ein Angebot sein, sich selbst zu verstehen, denn das Fassungslose wird ausgesprochen, wozu man als Trauernder zu Beginn nicht in der Lage ist. Es kann Hilfestellung sein, sich im Leben nach der Wende zu orientieren. Es könnte zudem Nicht-Trauernden dazu bringen, mehr Verständnis für Trauernde aufzubringen und gut gemeinten Ratschläge, die dummen Fragen, ob man denn noch nicht darüber hinweg sei, zu unterlassen.

Es ist ein bewegendes, berührendes Buch, im letzten Kapitel eine Liebesgeschichte, wie sie nicht oft erzählt, aber sicher oft erlebt wird.

Julian Barnes, Lebensstufen, a.d. Engl. v. Gertraude Krueger, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 143 S., ISBN 978-3-462-04727-1

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