Wajdi Mouawad, Anima

Wajdi Mouawad, Anima

„Anima“ ist ein aus der Perspektive verschiedener Tiere erzählter (Kriminal-) Roman, der es in sich hat. Die Lektüre setzt entweder starke Nerven voraus oder eine gewisse Unfähigkeit, sich bildlich vorstellen zu können, was man dort liest.

„So oft schon hatten sie gespielt, sie stürben in den Armen des anderen, dass er im ersten Moment lauf auflachte, als er sie blutverschmiert im Wohnzimmer liegen sah, weil er glaubte, sie hätte das Ganze nur im großen Stil inszeniert, um ihn zu überraschen, zu schockieren, aus der Fassung zu bringen, um ihm eins auszuwischen.“

Léonie, die Frau des Protagonisten Wash Dibsch, ist bestialisch ermordet und auf kaum vorstellbare Art und Weise missbraucht worden. Menschliche Zeugen gibt es nicht, wohl aber FELIS SILVESTRIS CATUS CARTHUSANORUM, eine Hauskatze, die davon berichtet und sogar zu wissen meint, was in dem Ehemann vor sich geht:

„Ich bin mir sicher, dass er sich vorstellte, wie ihr Herz seine letzen Schläge tat, ein zuckender Katzenfisch in ihrer Brust, sich selbst überlassen, in die Tiefe gezerrt.“

Die Suche Wash Dibschs nach dem Mörder seiner Frau führt ihn durch Nordamerika, in Indianerreservate und unwirtliche Landschaften. Völlig auf sich allein gestellt, wird er stets begleitet von Tieren, die ihm auf unerklärliche Weise sehr nahe zu sein scheinen. Man kann beinahe von einer fast schon symbiotischen Beziehung sprechen, die er zu Tieren hat und diese zu ihm haben. Sie helfen sich gegenseitig aus diversen Nöten, verstehen einander, ohne „Worte“.

„Bei ihnen fand ich Zuneigung und Mitgefühl, mein Gott, ja, Mitgefühl. Das hat mich gerettet. Ich erinnere mich an die Stummheit, die Stummheit der Tiere, denen man Grauenhaftes angetan hatte, … ich erinnere mich, dass ich begann für sie zu sprechen, dass ich ihnen meine Worte in den Mund legte, dass ich ihre Gedanken aussprach, dass ich ihnen die wenigen Worte schenkte, die ich hatte, die Worte eines verängstigten Kindes. Die Tiere haben mich nicht verlassen. Daran erinnere ich mich, an genau diesen Moment, ich erinnere mich nicht an das Davor und das Danach, ich erinnere mich nur an das Währenddessen, an ein Währenddessen mit den Tieren.“

Und dann ist da noch der Pathologe, der die Obduktion Washs Dibschs Frau Léonie vorgenommen hat, ihn über die laufenden Ermittlungen informiert und ihm so hilft, den Mörder seiner Frau zu jagen. Die beiden „einsamen Wölfe“ scheinen sich unausgesprochen sympathisch zu sein.

„Manchmal begegnet man einem Geschöpf, das einen mehr berührt als andere, weil es etwas in sich trägt, was uns selbst fehlt, auch wenn wir nichts davon wissen.“

Dieses besondere Verhältnis des Protagonisten zu Tieren, aber auch zu Menschen, die von anderen gedemütigt und herabgesetzt werden, wird einem als Leser erst im Verlauf des Romans deutlich und ansatzweise verständlich. Denn die Suche Was Dibschs ist nicht nur eine Suche nach dem Mörder seiner Frau, sie wird immer mehr auch zu einer Begegnung mit seiner eigenen dramatischen Vergangenheit, an die er sich vielfach – aus guten Gründen – nicht mehr wirklich erinnern kann. Die Erlebnisse, die er auf der Jagd nach dem Mörder macht, bringen immer mehr Erinnerungsfetzen in sein Bewusstsein und offenbaren ihm eine Wahrheit, mit der ein Weiterleben kaum vorstellbar ist.

Doch Wash Dibsch findet seine Lösung, „das Unerklärliche, das Unfassbare greifbar zu machen“. Und macht den Pathologen auf indirekte Art und Weise zu seinem Zeugen.

Der Roman ist nicht nur ein äußerst spannender, in der Art seiner Morde sehr brutaler Krimi, sondern auch auf indirekte Art eine kritische Darstellung, wie in Amerika in der Vergangenheit mit indianischen Minderheiten umgegangen worden ist, deren Folgen in den Reservaten noch immer zu spüren ist. Die Brutalitäten der politischen Situation im Libanon mit den verheerenden Konsequenzen für die Verfolgten, der Notwendigkeit ins Ausland zu fliehen, wenn man am Leben geblieben ist, ist ein weiterer gesellschaftspolitischer Aspekt dieses Krimis, der lange in einem nachhallt, ob man nun will oder nicht.

Da ist es dann fast unerheblich, dass ich mich als Leserin – zumindest zu Beginn der Lektüre – über das notwendige Nachschlagen der wissenschaftlichen lateinischen Bezeichnungen der Tiere, die zu Beginn des jeweiligen Kapitels aufgeführt werden, geärgert habe. Für mich hat dies den Lesefluss unnötig beeinflusst. Die Liste der Tiere mit den jeweils lateinischen und deutschen Namen findet man zwar auf den Innenseiten der Bucheinfassung, doch bleibt meine Frage nach dem Warum der wissenschaftlichen Nomenklatur zu Beginn der Kapitel unbeantwortet.
Die Frage, warum das letze Kapitel „Homo Sapiens Sapiens“ dann doch aus menschlicher Perspektive – aus der des Pathologen – geschildert wird, bleibt ebenfalls offen. Dennoch ein beeindruckender Krimi.

Wajdi Mouawad, ANIMA, Roman, a.d. Franz. v. Sonja Finck, dtv München 2015, 444 S., ISBN 978-3-423-14463-6

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