Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens

Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens

„Jetzt ist geschehen, woran ich nicht mehr zu glauben gewagt habe, ich habe mich aus eigener Kraft aus einer schlimmen Lage befreit.“ – ein Satz von Johannes, dem Ich-Erzähler dieses Entwicklungsromans am Ende seiner Geschichte. Es ist eine außer-gewöhnliche Sozialisation, die Johannes, ein Nachkriegskind, durchlebt, zum Teil erleidet. Er ist das einzige (noch lebende) Kind seiner Eltern. Von den anderen vier Geschwistern erfährt er erst viel später und empfindet diese Nachricht als heilsam, da er sich nun in Gesellschaft weiß, denn Johannes wächst völlig isoliert von seiner Umwelt und ohne Kontakt zu Gleichaltrigen auf, immer nur in Gegenwart seiner nach dem Tod der Kinder verstummten Mutter, die er im Sessel sitzend beobachtet, wie sie Zettel schreibt, um sich ihrem Mann mitzuteilen, der sie abends dann liest. Johannes ist stumm wie seine Mutter und lernt erst allmählich, sich über das Klavier zum Ausdruck zu bringen, erfährt, dass er etwas kann, was andere nicht können, und das würde er gerne auch in der Schule zeigen, wo er nur gehänselt und all Doofer abgestempelt wird, vor allem dann, als der Klassenlehrer die Geduld mit ihm verliert und sein so anderes Verhalten nicht mehr erklärt, sondern ihn zum Störfaktor macht. Ab da ist er Freiwild für die anderen.
Der Vater nimmt ihn aus der Schule und beginnt selbst mit der Unterrichtung des Sohnes, außerhalb der Reichweite seiner Frau. Und Johannes lernt zunächst zu schreiben und notiert alle Beobachtungen in schwarzen Kladden, später dann auch zu sprechen, erst in reinen Hauptsätzen, die einfach nur Dinge bezeichnen, die er in seiner Umwelt wahrnimmt, Verben und Adjektive kommen erst später hinzu. Und er erhält weiterhin Klavierunterricht, kommt in ein Musikinternat, in dem er sich unwohl fühlt, da er ständig von Menschen umgeben ist, für ihn kaum aushaltbar:
„Zu viel Zeit ging mit unendlich vielen, kleinteiligen Nebentätigkeiten verloren, zuviel Zeit galt dem Einstudieren von belanglosen Klavierstücken und noch viel belangloserer Kammermusik, und zu viel Zeit verwendete ich allein schon darauf, mit im üblichen Getümmel der Tagesgeschäfte einige freie Augenblicke zu verschaffen. Und das alles ereignete sich auch noch in einem Zuviel an Menschen um mich herum, … .“
Jahre später erlebt er in Rom als Musikstudent seine erste Liebe, die jäh zerbricht, als er mit dem plötzlichen Ende seiner gerade erst begonnenen Pianistenkarriere nicht zurecht kommt.
Doch im entscheidenden Moment weist ihn sein alter Musiklehrer darauf hin: „Im Grunde warst du nicht nur ein Pianist, sondern seit Deiner Kindheit auch ein Schriftsteller. Du hast gelebt wie ein Schriftsteller, und Du hast gearbeitet wie ein Schriftsteller! Dein ganzes Leben war eine Erziehung zum Schreiben und ein Eintauchen in die Schrift!
Und Johannes geht wieder nach Rom. Dieses Mal um zu schreiben. Diesen Roman, der sein Leben erzählt, und das auf spannende, sehr eindringliche und dennoch leise schlichte Art und Weise, berührend und bewegend, ohne kitschig zu sein. Das Schreiben des Romans bringt Johannes gleichzeitig dem Leben wieder näher, in dem mehr möglich ist als für ihn bisher denkbar und damit auch erlebbar gewesen ist.
Lesenswert!

Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens, 7. Aufl. München 2011, 590 S., ISBN 978-3-442-73978-3

 

5 Gedanken zu „Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens

  1. Auch ich habe das Buch gelesen vor zwei Jahren – es ist eine faszinierende Lebensgeschichte. Wer sich für das Schreiben begeistert, der sollte mehr von ihm lesen. Ortheil hat einen eigenen Stil, ohne viel wörtliche Rede und doch lebendig, Sätze über halbe Seiten, welche trotzdem gut im Kopf bleiben. Ich meine er ist ein Meister im im erzeugen von Stimmungen und Situationen. Auch sein neues Buch ‚Liebesnähe‘ ist gut zu lesen und lädt zum meditieren ein im Sinne von abschalten.
    LG von Niko

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