Erling Kagge, Gehen. Weiter gehen

Erling Kagge, Gehen. Weiter gehen

In „Stille“ stand eher die Suche nach Stille im Lauten im Vordergrund als das Gehen selbst. In dem gerade erschienenen Band bietet Kagge dem Leser eine sehr persönlich gehaltene, mit vielen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen gespickte „Anleitung“ zum Gehen an.

Seine Ausführungen beginnen mit seiner Großmutter:

„Eines Tages konnte meine Großmutter nicht mehr gehen.
An diesem Tag starb sie. Physisch lebte sie noch eine Weile, doch die neuen Knie, die man ihr anstelle der alten eingesetzt hatte, waren abgenutzt und konnten ihren Körper nicht mehr tragen. Da sie im Bett liegen musste, schwand auch die Kraft ihrer Muskeln. …

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich zwei Töchter. Die jüngere, Solveig, war dreizehn Monate alt. Während ihre Großmutter sich langsam in einer embryonalen Lage zusammenkrümmte, spürte Solveig, dass es an der Zeit war, gehen zu lernen. … Jedes mal, wenn Solveig losließ und versuchte einige Schritte allein zu gehen, entdeckte sie nicht nur, was oben und unten heißt, sondern dass es auch den Unterschied zwischen hoch und niedrig gibt. Als sie stolperte und mit der Stirn gegen die Kante des Wohnzimmertischs stieß, lernte sie, dass manche Dinge hart und andere Dinge weich sind. Gehen zu lernen gehört möglicherweise zu den gefährlichsten Dingen, die man im Laufe seine Lebens erlebt.“

Und sie enden mit dem letzten Gang seines Großvaters am 9. Februar 1945 vor ein Exekutionskommando „von acht norwegischen Nazis, die bereit standen, ihn zu erschießen.“

In Kagges Erzählungen dazwischen liest man von der Wichtigkeit und Bedeutung des Gehens in seinem Leben, egal ob es sich um das alltägliche Gehen zu seiner Arbeit, um sonntägliche mehrstündige Wanderungen oder um extreme Exkursionen z.B. in die Unterwelt New Yorks handelt. Gehen ist für ihn der Zugang zur Welt:

„Wenn ich gehe, kann ich mich selbst sehen, ich beginne die Erde zu lieben und den Körper im gleichen Tempo reisen zu lassen wie de Seele.“ Er beginnt zu erleben, dass und wie er mit allen Sinnen eins wird mit der Umgebung, die er durchgeht. Mit dem Ergebnis:

„Stück für Stück verstand ich, dass die Welt nicht so ist, wie sie aussieht; die Welt ist, wie du bist.“

Über seine eigenen Erfahrungen hinaus begegnet man in dem gut zu lesenden, mit einigen Illustrationen ausgestatteten Buch einer weit gefächerten Palette literarischen, philosophischen Überlegungen und Gedanken über das Gehen, die Fähigkeit einen Fuß vor den anderen zu setzen, als etwas, das zum Wichtigsten gehört, was wir tun.

Eine Tradition der Inuits im Umgang mit Wut ist sicher empfehlenswert:

„Wenn du so wütend bist, dass du deine Gefühle nicht mehr kontrollieren kannst, sollst du dein Heim verlassen, um geradeaus durch die Landschaft zu gehen, die draußen auf dich wartet – so lange bis du dich beruhigt hast. Dann markierst du mit einem Stock den Punkt, an dem die Wut dich verlassen hat, und steckst ihn in den Schnee. So hast du eine Messlatte für deine Wut. Wenn du wütend bist, ein Zustand, in dem das Reptiliengehirn deine Handlungen steuert, entfernst du dich am besten von dem Punkt, an dem deine Wut ausgelöst wurde.“

Für Kagge ist Gehen nicht nur in Wutsituationen empfehlenswert. Er versucht auch, Probleme durchzugehen, die sich oftmals, wenn er sie durchgangen ist, bereits aufgelöst haben oder er hat eine sinnhafte Lösung gefunden.

Auch für Menschen, die keine Geher sind oder Waldbadende, enthalten Kagges Ausführungen doch viele interessante, bedenkenswerte Aspekte. Neben „Stille“ sicher auch ein erwägenswerte Weihnachtsgeschenk.

Erling Kagge, Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung, a.d. Norwegischen v. Ulrich Sonnenberg, Insel Verlag, 158 S., ISBN 978-3-458-17768-5

4 Gedanken zu „Erling Kagge, Gehen. Weiter gehen

  1. Das kommt mir sehr recht, ich muss und soll mehr gehen. Und ich weiß ja, wie gut es tut. Außerdem ist hier viel Platz, in den Weinbergen und innerorts.
    Deine Besprechung ist wieder so erlesen, dass ich das Buch sogleich auf meine Wunschliste setze. Danke!

  2. das ist eine wunderbare empfehlung! schon „Stille“ las ich mit viel freude, und nun dieses. es kommt sofort auf den wunschzettel. das gehen – es ist mir stete quelle der kraft, sei es wut, sei es traurigkeit, sei es einfach nur bewegungslust, die mich dazu treibt – egal. es tut immer immer gut. danke schön!
    herzlicher gruß
    Sylvia

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert