Seid doch Menschen
„Wir sind alle gleich – es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut.
Es gibt nur menschliches Blut.
Ihr habt doch alles dasselbe. (…)
Seid doch Menschen.“
(Margot Friedländer)
Dieses Jahr bekommt der 9. November – 85 Jahre nach der Reichsprogromnacht – im Hinblick auf die Lage im Nahen Osten und angesichts der Reaktionen weiter Kreise in Deutschland eine ganz neue Dimension.
Werde ich mich auch eines Tages fragen lassen müssen: Was hast du getan, um jüdische Mitbürger zu schützen, zu unterstützen, was hast du gegen den zunehmenden offen ausgetragenen Antisemitismus getan? So wie meine Generation die meiner Eltern und Großeltern gefragt hat.
Vor einiger Zeit hätte ich geantwortet:
Ich sorge in meinen Unterrichtsfächern Deutsch und Sozialwissenschaften dafür, dass Jugendliche lernen, kritisch und vorbehaltlos zu denken, propagandistische Texte und ihre sprachlichen Manipulationsinstrumente zu erkennen etc. Ich hätte sicher mit ihnen auch Texte von Bertolt Brecht gelesen und diskutiert, etwa das „An die Nachgeborenen“, wo es in der 2. Strophe heißt:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
Was kann ich jetzt ohne dieses „Wirkungsfeld“ tun?
Was heißt es für mich konkret, Mensch zu sein?
Mich solidarisieren, aber wie?
Zu Gedenkfeiern gehen und schauen, ob bzw. was es da zu sagen, zu tun gibt.
Mit Menschen in Kontakt kommen und gemeinsam agieren?
Irgendetwas gegen das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht tun?
Heute jedenfalls werde ich zu einer Gedenkfeier mit anschließendem Treffen in der hiesigen Synagoge gehen, in der ich vor Corona regelmäßig Konzerte gehört habe.
Vielleicht ist das ein Anfang.
Und auch Brecht endet sein Gedicht mit einem Appell:
Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht
4 Gedanken zu „Seid doch Menschen“
„Im Namen von Religionen wurden und werden Kriege geführt, sogar »Heilige Kriege«. Seit Jahrtausenden wird Gewalt im Namen von Religionen eingesetzt und gerechtfertigt. Religionen waren und sind oft intolerant. Deshalb sage ich, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Ethik jenseits aller Religionen brauchen.“ (Aus einem Interview mit dem Dalai Lama, das Franz Alt führte.)
Gelebte Solidarität ist ein Bekenntnis zu einer echten Menschlichkeit, die nicht nach Religion und Herkunft fragt. So will ich es auch halten und hinschauen – nicht wegschauen!
Danke für Deinen so wichtigen Beitrag, den ich sehr zu schätzen weiß!
Herzliche Grüße zu Dir!
Wenn Religionen beginnen, sich mit Machtansprüchen – in welcher Form auch immer –
zu verbinden, entfernen sie sich von ihrem Kern, der letztendlich alle Religionen und die sie ausübenden Menschen verbinden könnten: dem Aufruf zu lieben.
Auf der Gedenkfeier haben Vertreter der katholischen, der evangelischen, der muslimischen und der jüdischen Gemeinden gemeinsam ein Friedensgebet gesprochen.
Wenn diese Gemeinsamkeit dann auch im Alltag gelebt werden könnte, wäre an der Stelle die Welt ein wenig liebenswerter.
Herzliche Abendgrüße
Danke für diese wunderbaren Zeilen. Einfach Mensch sein ist wohl die verbindendste Haltung.
Aber es ist gar nicht so einfach, sich öffentlich zu solidarisieren, zu positionieren, vor allem hier im ländlichen Umfeld.
Aber bei Gesprächen und Diskussionen deutlich seine Meinung kenntlich machen, das ist vielleicht schon ein Ansatz und, wie C Stern auch sagt, wenn es darauf ankommt, nicht wegschauen.
Einen lieben Gruss,
Brigitte
Einfach Mensch sein!
Wenn es so einfach wäre, in jedem Augenblick zu wissen, was genau das bedeutet. Ob folgendes Zitat von Augustinus da hilfreich ist?
Liebe – und dann tu, was du willst!
Nachdenkliche Abendgrüße