Annie Ernaux, Das andere Mädchen

Annie Ernaux, Das andere Mädchen

„Das andere Mädchen“ ist ein längerer Brief an die tote Schwester, von der die Ich-Erzählerin lange überhaupt nichts wusste. Von der Existenz dieser Schwester hat sie auch nicht offiziell von ihren Eltern erfahren, sondern eher aus Zufall durch ein von ihr belauschtes Gespräch zwischen ihrer Mutter und einer jungen fremden Frau aus Le Harvre, die ihre Schwiegereltern in der Stadt besucht, in der auch die Ich-Erzählerin mit ihren Eltern lebt.

„Ich kann die Erzählung nicht Wort für Wort wiedergeben, nur den Inhalt und einige Sätze, die die Jahre bis jetzt überdauert haben, Sätze, die wie eine kalte, lautlose Flamme über mein Kinderleben hinwegfuhr, während ich weiter neben meiner Mutter herumsprang und mich drehte, mit gesenktem Kopf, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen.“

Sie erfährt, dass die Schwester an Diphtherie gestorben ist.

„über mich sagt sie, sie weiß von nichts, wir wollten
sie nicht belasten

am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als
die da

Die da, das bin ich.“

Der Brief an die Schwester ist zum einen die Verarbeitung dieser Nachricht, von der sie ja offiziell gar nichts wissen darf oder soll. So kann sie dementsprechend auch nicht mir ihren Eltern darüber reden. Zum anderen ist dieser Brief aber auch die Auseinandersetzung mit der Tatsache dieser Nachricht und dem Zusatz der Mutter: „Sie war viel lieber als die da.“

Die Ich-Erzählerin sucht nach Spuren dieser Schwester, nach Bildern, um sich – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Bild von ihrer Schwester zu machen. Doch sie kann weder von „unseren Eltern“, noch von „unserer Mutter“ sprechen.

Ihr Fazit lautet schon früh:
Du „bist nicht meine Schwester, bist es nie gewesen. Wir haben nicht zusammen gespielt, gegessen, geschlafen. Ich habe dich nie berührt, nie geküsst. Ich weiß nicht, welche Augenfarbe du hattest. Ich habe dich nie gesehen. … Du bist das Kind im Himmel, das unsichtbare kleine Mädchen, über das nie geredet wurde, die Abwesende aller Gespräche. Das Geheimnis.“

Abwesend anwesend ist die Schwester ab dem Moment, wo sich ihr dieses Geheimnis offenbart, über das sie nicht reden, später dann aber schreiben kann.

„Ich mache ihnen keine Vorwürfe. Die Eltern eines toten Kindes können nicht wissen, was ihr Schmerz mit dem lebenden Kind macht.“
Ergebnis ist ein – für mich – sehr lesenswerter, beeindruckender Roman.

Annie Ernaux, Das andere Mädchen, a.d. Franz. v. Sonja Fink, Berlin 2022, 74 S., ISBN 978-3-518-22539-4

6 Gedanken zu „Annie Ernaux, Das andere Mädchen

  1. „Poah“, denke ich mir laut, was für ein Buch!
    Nur beim Lesen Deines Überblickes – danke dafür! – zieht es mir die Gänsehaut auf! Es tut mir fast weh, solche Aussagen zu lesen, es ist „nur“ ein Roman, aber ich weiß von realen Situationen ähnlicher Art.
    Kinder spüren, wenn da jemand war, auch, wenn es geheim ist. Irgendwas bekommen sie immer mit und sie wissen ihr „Lauschen“ perfekt zu tarnen … Ich weiß von Kindern, die Zwillinge waren – im Bauch der Mutter -, aber dann ging was schief in der Schwangerschaft. Sie wissen etwas, obwohl sie nichts wissen können, weil nie in Gegenwart des Kindes darüber gesprochen wurde … Sie sprechen mit Seelen, die sie auch sehen, sie decken den Tisch für das Brüderchen oder Schwesterchen, das doch eigentlich gar nie da war … Eltern stehen vor Rätseln – „Wir haben doch nie darüber geredet.“
    Auch Schweigen, Blicke und Gesten können verstanden werden, es gibt mehr Wissen in uns, als wir Erwachsene oft ahnen wollen …
    Dass die Mutter im Roman ihr noch lebendes Kind auch noch so abwertet, das ist sehr schmerzhaft.
    Das Buch wirkt äußerst lesenswert auf mich – die Liste wird immer länger. Ich sollte sie endlich angehen …
    Ganz liebe Grüße!

    1. Ja, es ist „nur“ ein Roman, allerdings sind ihre Romane oft autobiografisch, d.h. die Autorin hat es möglicherweise sogar selbst erlebt.
      Erwachsene machen sich oft falsche Vorstellungen davon, was Kinder, vor allem sehr feinfühlige, mitbekommen. Menschen vergessen immer wieder, dass auch ihre Gestik, Mimik und ihre Körper sprechen.
      Dem Roman vorangestellt ist folgender Satz:
      „Kinder sind dazu verdammt, alles zu glauben.“
      Flannery O’Connor
      Welche Konflikte entstehen also, wenn Kinder das Gefühl haben, belogen zu werden.
      Herzliche Morgengrüße

      1. Liebe Grüße in den Tag :-)

        Ich kann davon berichten, dass es gerade in Bildungseinrichtungen eine absolute Gratwanderung sein kann, Kindern immer ehrlich zu begegnen. Manchmal ist das Ehrlichsein sehr konträr zu Erfahrungen, die Kinder in ihrem Zuhause machen.
        Auch zu Zeiten von Nikolaus, Osterhase und Weihnachten kann das Beantworten von Fragen sehr herausfordernd sein, das meine ich nicht nur mit einem Zwinkern, sondern durchaus wortwörtlich. Ich habe erlebt, dass sich (vor allem) Mütter sogar medial beschwerten, weil Kindern ehrliche Antworten gegeben wurden, die sie bezüglich Nikolaus, Christkind oder Osterhase von den Pädagog*innen eingefordert haben.
        Auch, was Fragen zur Fortpflanzung betrifft, muss man sehr genau überlegen, auf welche Art und Weise man Kindern da begegnet, um ihnen altersgerecht Fragen zu beantworten. Man kann sehr rasch in Konflikt mit Eltern geraten, gerade, wenn sie sehr strenggläubig sind. Ich habe immer wieder erlebt, dass Kinder darauf bestanden, Babys würden von Allah geschickt oder allein durch Küssen entstehen. Dabei haben sich manche aber auch einfach „auf die Lauer“ gelegt und wussten dann mehr und sehr Drastisches zu berichten, als uns lieb war …

        1. Das sind dann ja noch einmal ganz andere Aspekte im Hinblick auf dieses Thema, und der Umgang damit nachvollziehbar brisant. Denn schnell gerät man da als PädagogIn in den Einflussbereich der Eltern.
          D i e Lösung wird es da sicher nicht geben.

  2. au! heftig! das tut richtig weh.
    neben allem anderen auch die äußerung „die da“. das trifft.
    es ist gut, dass du hier so viele gute bücher besprichst!
    nicht alles ist was für mich, nicht jetzt, aber es ist immer sehr aufschlussreich und erhellend, was du uns vor augen stellst. danke!
    lieber gruß
    Sylvia

    1. Ich habe mir vorgenommen, nur inhaltlich und sprachlich interessante Bücher vorzustellen, Verrisse zu schreiben, mag ich nicht.
      Natürlich ist die Auswahl subjektiv, und die Schwere der Themen nicht jedermanns Sache.
      „Leicht“ kann ich offensichtlich (noch) nicht ;)
      Liebe Grüße

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