Annie Ernaux, Eine Leidenschaft

Annie Ernaux, Eine Leidenschaft

„Ich habe herausgefunden, wozu man fähig ist – zu allem nämlich.“

Muss man für diese Erkenntnis der Protagonistin das Buch lesen? Sicher nicht.
Muss man „Eine Leidenschaft“ überhaupt lesen? Auch nicht.

Dennoch ist es eine unterhaltsame Lektüre, die einem nicht allzuviel abverlangt, mit der sich aber sicher interessanter unvermeidbare längere Wartezeiten ausfüllen lassen als mit den oft ausliegenden Zeitschriften, die meist eh bereits ziemlich veraltet sind.

„Ab September letzten Jahres tat ich nichts anderes mehr, als auf einen Mann zu warten.“
Genau darum geht es in diesem Band. Es wird nicht wirklich die Affäre zwischen der schon etwas älteren, vielleicht sollte man besser sagen reiferen Frau – sie ist geschieden, berufstätig und die Kinder aus dem Haus – und dem etwas jüngeren Mann, der für sie Alain Delon ähnelt, nur der Ausländer genannt – beschrieben, sondern ihre Tätigkeiten und Gedanken, bis zu seinem nächsten Anruf:

„Meine einzige Zukunft war der nächste Anruf, bei dem wir uns verabreden würden.“
Sie verlässt das Haus neben ihrer beruflichen Tätigkeit so gut wie nie, um keinen Anruf zu verpassen, meidet sogar, „den Staubsauger und den Fön zu benutzen, weil ich womöglich das Telefon nicht gehört hätte.“ Gleichzeitig ist sie beherrscht von der Angst, er könne nicht mehr wiederkommen. „Wir verbrauchten ein Kapital an Begehren. Was wir an körperlicher Intensität hinzugewannen, verloren wir an Zeit.“

Mit immer wieder neuen Kleidern, Ohrringen und Nylonstrümpfen will sie sich ihrem Geliebten jedes Mal in einer anderen Aufmachung zeigen. „Dabei bekam er die neue Bluse oder die neuen Pumps höchstens fünf Minuten lang zu Gesicht, bevor sie bis zu seinem Aufbruch irgendwo herumlagen.“ Auch die Wohnung bringt sie jedes Mal auf Hochglanz. Für sie gibt es keine „präzise Chronologie“. Sie kennt nur „An- oder Abwesenheit“ als die ihren Alltag bestimmenden Faktoren.

Mit diesem Buch versucht sie in Worte zu fassen, was seine bloße Existenz ihr gegeben hat. Fazit dieser Affäre für sie ist: dass es „Luxus ist, seine Leidenschaft für einen Mann oder eine Frau leben zu können.“ Dafür hat sie dann auch einiges in Kauf genommen:
„Ich habe herausgefunden, wozu man fähig ist – zu allem nämlich. Zu geheimen Wünschen, die sublim oder tödlich sein können, zum Verlust der eigenen Würde, zu Glaubenssätzen und Verhaltensweisen, die ich bei anderen für irrational hielt, bis ich selbst darauf zurückgegriffen habe. Unwissentlich hat er meine Verbindung zur Welt gestärkt.“ Na dann.

Annie Ernaux, Eine Leidenschaft, a.d. Französischen v. Sonja Fink, Berlin 2024, 70 S., ISBN 987 3 518 22553 0

10 Gedanken zu „Annie Ernaux, Eine Leidenschaft

  1. So eine ausschließliche Fixierung auf eine Beziehung, die bei genauer Bertrachtung höchstens ein Stelldichein nach dem anderen ergibt, ist mir eine grauenhafte Vorstellung.
    Eine Leidenschaft, die Leiden schafft, so kommt mir das vor – Teilnahmslosigkeit an der Welt.

    Danke auch für Deine Rückmeldung der News aus Rom – es wird also nachgedacht. Wir werden keine Päpstin mehr erleben. (Nicht, dass ich solche Entscheidungen diesen seltsamen „Würdenträgern“ in Frauenkleidern überhaupt zutrauen würde …)

    Liebe Grüße ins Nachbarland

    1. Meins wäre es auch nicht.
      Es liest sich wie eine Erzählung über eine erste Teenager-Liebe.
      Doch: wo die Leiden-schaft hinfällt …
      Dir noch einen erholsamen Abend – vielleicht mit einem kleinen Spaziergang durch die Felder ;)
      Liebe Grüße

  2. Na dann. Ich kann mir so eine Obsession einfach nicht vorstellen. Aber zum Lesen könnte das in der Tat amüsant sein. :–)
    Danke fürs Lesen und Besprechen.
    Lieben Gruss in den Abend,
    Brigitte

    1. Es ist auf jeden Fall interessanter als Artikel in der Yellow Press. Immerhin hat die Autorin den Literaturnobelpreis bekommen ;)
      Liebe Grüße und noch einen schönen Sommerabend.

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