Christine Koschmieder, DRY

Christine Koschmieder, DRY

Auf allen möglichen Kanälen sozialer Medien, in Rundfunk und Fernsehen etc. begegnet einem der Begriff „Dry January“. Gemeint ist damit eine – vor allem in Frankreich, Großbritannien und der Schweiz – verbreitete Kampagne, die dazu aufruft, im gesamten Januar, also vier Wochen lang als Krebs- und Alkoholprävention keinen Alkohol zu trinken.

Christine Koschmieder bzw. die Ich-Erzählerin in ihrem (autobiografischen) Roman „DRY“ ist da am Ende weiter: Sie bezeichnet sich als (trockene) Alkoholikerin, die keinen Alkohol mehr trinken will, darf, wenn sie nicht rückfällig werden will. Und das will sie auf keinen Fall.

Der Roman beginnt in der Suchtklinik, in die sich die Ich-Erzählerin freiwillig hat einweisen lassen, weil sie für sich den Eindruck hatte, zwar noch zu funktionieren, mehr oder weniger gut alles zu „wuppen“, aber nicht mehr viel wirklich zu spüren, wahrzunehmen. Und das das auch ihre Kinder betrifft, für die sie als Alleinerziehende nach dem frühen Tod ihres Partners verantwortlich ist, neben ihrer Aufgabe, ihren Lebennterhalt zu finanzieren.

Sie sitzt in Anwesenheit ihrer Zimmergenossin am Tisch und versucht, die Aufgabe ihres Therapeuten zu erledigen, einen horizontalen und vertikalen Zeitstrahl aufzuzeichnen:

“ ‚An der horizontalen Achse vermerken Sie bitte alle Ereignisse, die in Ihrem Leben eine Bedeutung für Sie hatten, mit den entsprechenden Jahreszahlen, und oberhalb der Achse markieren Sie Ihren jeweiligen Alkoholkonsum zu dem Zeitpunkt. Und dann verbinden Sie die Punkte zu einem Diagramm.‘ … Er hat mir die Vorlage rübergeschoben und dann leider noch den entscheidenden Satz hinterhergeschickt: ‚Welche Ereignisse Sie wählen, bleibt Ihnen überlassen, da gibt es keine Vorgaben. Das können ja nur Sie einschätzen, was jeweils bedeutende Ereignisse für Sie waren.‘
Keine Vorgaben. Bedeutsame Ereignisse, die mit einer Linie verbunden werden sollen. Ich hätte ihm sagen sollen, dass genau das so ungefähr die unlösbarste Aufgabe ist, die man mir stellen kann. “

Aber sie stellt sich dieser Aufgabe während der 15 langen Wochen in der Suchtklinik. Sie wird sich ihres bisher geführten Lebens gewahr, wo, wie sie aufgewachsen ist, über die Ehe ihrer Eltern, weiß da auch ganz klar, dass und wie sehr ihre Eltern alkoholabhängig waren, obschon auch sie überwiegend in ihren Berufen funktioniert haben.
Sie spürt ihre oft orientierungslose Suche, ihr eigenes Leben zu führen und wie der Alkohol einfach (fast) immer dazu gehört hat, so ganz selbstverständlich, dass er häufig kaum Erwähnung findet, man als aufmerksamer Leser aber merkt, was und wieviel sie da trinkt, aber auch allgemein getrunken wird.

Daneben spielt natürlich auch der Alltag in der Klinik eine Rolle, das vorübergehende Kontaktverbot zu ihren Angehörigen, die Therapiesitzungen, der Umgang mit anderen PatientInnen und vor allem die Konfrontation mit sich selbst. Die Ich-Erzählerin wird zunehmend klarer und ehrlicher sich selbst gegenüber und gesteht sich ein:

„Also trinke ich … von Januar bis April, … Ich halte Zeiten ein. Ich trinke nicht vor nachmittags. Frühestens um fünf erlaube ich mir das erste Glas. Am Wochenende etwas früher. Ich halte Verabredungen ein, beantworte Mails und Briefe, fahre zweimal die Woche zum Arbeiten nach Berlin, nehme an der Vorstandssitzung im Sächsischen Literaturrat teil, lasse mir die Schweinegöttin stechen, begleite Tillie zu einem Casting, spiele Backgammon mit Oleg, gehe zum Qigong und zu Elternabenden, recherchiere im Bundesarchiv in Ludwigsburg, streite mich mit dem Vermieter über Kellerschlüssel, zahle GEZ-Gebühren, moderiere Lesungen, klaube den Restmüll aus Olegs Papierkorb aus der Papiertonne, bringe leere Flaschen mit schwarzen Schlangen auf den Etiketten zum Altglascontainer. …
Während ich trotz Schmerz und Chardonnay alles hinzukriegen scheine und mich das immer verzweifelter macht, wird mir etwas klar. Dass ich nämlich gar nicht trinke, weil ich einen Anlass habe. Sondern dass ich der Anlass bin. …
Ich verwandle mich einfach je nach Anlass und Anforderungen genau zu dem, was am ehesten Zuneigung, Zustimmung, Bewunderung zu versprechen scheint. Wie ein Chamäleon. Und ich komme mir dabei vor wie ein Fake. Als würde ich allen etwas verkaufen, das ich gar nicht bin.“

Wie also werde ich zum Original, wer bin ich (ohne Alkohol)?

Dieser Roman ist interessant, gut erzählt, klar, geradeaus, ohne überflüssigen Schnörkel in Inhalt und Sprache, kommt ohne Wehleidigkeit und Selbstmitleid aus, ist analytisch, ohne anzuklagen. Zudem erhält die Handlung durch ihre Nichtlinearität eine Spannung, die einen den Roman – trotz des schwierigen Themas – zügig lesen lässt. Ein Buch, das nicht nur die persönliche Betroffenheit der Ich-Erzählerin angemessen zum Ausdruck bringt, sondern auch die zum Teil versteckte, gesellschaftliche Dimension von Alkoholismus und seinen schädigenden Auswirkungen deutlich macht, ohne zu moralisieren.

Ein außerordentlich lesenswerter Roman. Sehr empfehlenswert.

5 Gedanken zu „Christine Koschmieder, DRY

  1. Klingt ganz nach äußerst lesenswert, danke!
    Ein sehr großes Thema, da ja Alkohol gerade in meinem Land auch als Kulturgut gilt, nach dem Motto: Bier und Wein – Du sollst selig sein …

    Ich selbst trinke nur ganz selten einen Schluck Alkohol, weil er mir schlicht mit wenigen Ausnahmen nicht schmeckt.
    Es muss arg bitter sein, wenn ein alkoholkranker Mensch erkennt, dass er um seinetwegen trinkt.
    Ich habe drei mir sehr kostbare Menschen an den Alkohol verloren: Eine Vaterfigur, die sich aus dem Leben gesoffen hat und schließlich das eigene Ende mit einer Waffe herbeiführte; eine besondere Frau, die mir mütterlich geneigt war – und meinen Großvater, den ein Betrunkener mit seinem Auto aus dem Leben gerissen hat.
    Ich denke, das hat mich auch geprägt.
    Liebe Grüße! C Stern

  2. Oh, da hast du ja schmerzliche Erfahrungen machen müssen.
    Den Umgang mit Menschen, die keinen Alkohol trinken, finde ich manchmal problematisch, statt zu akzeptieren, dass sie keinen Alkohol trinken wollen, werden sie um Begründungen gefragt, bedrängt. Allerdings war das – zumindest früher – auch der Fall, wenn man Vegetarier war.
    Für mich mittlerweile eine Möglichkeit, standhaft zu bleiben ;)
    Herzliche Morgengrüße

  3. Das Thema ist sicher für viele Menschen zentral und es hilft, wenn darüber sachlich, unvoreingenommen und authentisch geschrieben wird.
    Für mich und mein ganzes Umfeld hat Alkoholismus noch nie eine Rolle gespielt. Darüber darf ich mich sicher glücklich schätzen.
    Einen lieben Gruss,
    Brigitte

  4. In meinem unmittelbaren Umfeld hat das auch keine Rolle gespielt.
    Doch ist Alkohol allgegenwärtig. In der Diskussion um die Legalisierung von Drogen diverser Provenienzen wird m.E. Alkohol als Droge mit all seinen Auswirkungen zu wenig berücksichtigt. Aber das ist dann wieder ein anderes Thema ;)
    Liebe Grüße

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