Claudia Haarmann, Kontaktabbruch in Familien

Claudia Haarmann, Kontaktabbruch in Familien

Claudia Haarmann unternimmt es mit diesem Buch, Hintergründe der Familienkonstellationen zu beleuchten, die von beiden Seiten oft als dramatisch empfundenen Kontaktabbrüchen innerhalb einer Familie zugrunde liegen.

Es geht ihr dabei nicht um die Klärung möglicher Schuldfragen, sondern um das Sichtbarmachen schwieriger Familienmuster, die meist eine generationenübergreifende Entstehungsgeschichte haben, „um die Grundlinien der Verwerfungen“ zu sehen, die nicht so unvorhersehbar oder überraschend auf einmal da sind und Kontaktabbrüche oder „Funkstille“ zur Folge haben, wie die Betroffenen – meist sind es die Eltern – es erleben.

Zunächst beschreibt sie, was eine sichere Bindungen zwischen Eltern und Kindern kennzeichnet:
nämlich Bindung, Sicherheit und Halt auf der einen Seite und Autonomie und Selbstbestimmung auf der anderen. Wenn beides in einem möglichst harmonischen Gleichgewicht vorhanden ist, haben Kinder die Möglichkeit, „Wurzeln und gleichzeitig Flügel“ auszubilden.

Wenn aber Eltern aus eigenen traumatischen Kindheitserfahrungen heraus selbst ohne Halt und Geborgenheit aufgewachsen sind, ist es für sie schwierig, manchmal gar unmöglich, genau das ihren Kindern zu geben.

Claudia Haarmann zeigt, welche kompensatorischen Verhaltensmuster auf beiden Seiten ausgebildet werden, um nicht den Schmerz spüren zu müssen, nicht in Kontakt zu sein, und welche Atmosphäre, Sprach- und Kontaktlosigkeit in solchen Familien entstehen und sich dauerhaft einnisten können, aus denen dann meist die Kinder entfliehen und den Kontakt zu den Eltern einschränken oder aus einer inneren Not heraus sogar völlig abbrechen. Oder Eltern ihre Kinder durch bestimmte Ultimaten dazu zwingen wollen, dass ihre Kinder so sind, sich so verhalten, wie sie sich aus ihrer elterlichen Perspektive zu verhalten haben.

Aus dieser emotionalen Katastrophe – und das ist es in der Regel für alle Beteiligten, unabhängig davon, ob oder wie sie es zum Ausdruck bringen können oder eben auch nicht – kommt man nur heraus, wenn beide Seiten ihre Wahrheit aussprechen können und mit dieser wahrgenommen werden – ohne Schuldzuweisungen und Vorwürfe.

Eltern sollten in der Lage und bereit sein, Fehler einzugestehen, und Kinder, zumindest wenn sie erwachsen sind, bereit sein sich, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum ihre Eltern wohl so gehandelt haben, wie sie es taten, ohne den eigenen Schmerz zu verleugnen. Beides sorgt für ein mögliches gegenseitiges Verständnis.

Gegenseitige Anerkennung und die Übernahme von Verantwortung ist für Claudia Haarmann eine Möglichkeit, Veränderungen in scheinbar festgefahrene Situationen zu bringen. Sie ist davon überzeugt, dass – in der Regel – Eltern ihre Kinder lieben und auch Kinder ihre Eltern lieben, beide Seiten es oftmals aber nicht gelernt habe, diese mit Herzenswärme den anderen auch spüren zu lassen, indem zunächst Eltern ihre Kinder wahrnehmen, annehmen, wie sie sind und ihnen das geben, was sie für ihren Körper, ihren Geist und ihre Seele brauchen.

Zum Schluss spricht sie die neuere Tendenz an, Kinder überzubehüten. Kinder werden dann wohl am Anfang spürbar mehr Anerkennung und Lob erhalten, weil sie gesehen werden. Doch wenn sie zum Lebensinhalt der Eltern werden, ist es für die Heranwachsenden schwierig, „tragfähige Flügel“ auszubilden, die Voraussetzung in die Welt der Erwachsenen hineinzukommen, in der es gilt, selbstständig Entscheidungen zu treffen und mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen auch zu leben.

Für mich ein lesenswertes Buch, kein Ratgeber. Doch macht es auf gut nachvollziehbare, verständliche Art und Weise deutlich, wofür (elterliche) Liebe sorgen muss: für Bindung und Nähe ebenso für Autonomie und Selbstbestimmung. Es ist selbst dann hilfreich, wenn die eigenen Eltern bereits verstorben sind, weil Verständigung und Versöhnung auch über das Grab hinaus möglich sind.
Das Buch enthält im Anhang eine Bibliografie.

Claudia Haarmann, Kontaktabbruch in Familien. Wenn ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich scheint, überarbeitete u. erweiterte Neuausgabe, 4. Aufl. München 2022, 287 S., ISBN 978-3-466-34739-1

10 Gedanken zu „Claudia Haarmann, Kontaktabbruch in Familien

    1. Ja, das ist es.
      Und m.E. geht das Buch damit sehr behutsam um, mit dem Ziel, Verständnis für sich selbst und den/die jeweils anderen zu ermöglichen.
      Herzliche Grüße

  1. Liest sich sehr einsichtsreich, ich habe das Buch gerade bestellt. Vielen Dank für Deine Rezension!
    Das Buch passt gut in meine Situation.
    Ich weiß nicht, ob ich dann besser verstehen kann, warum meine Schwester agiert, wie sie agiert, aber das Thema für sich ist schon sehr interessant.
    Ich habe keine Chance, zu erfahren, was ich falsch gemacht haben soll. Ich habe allerdings auch einen Vorteil des Schweigens schon erkannt … Manches hat mich ohnehin unsäglich aufgeregt!
    Mit mir wird, wenn überhaupt, nur noch schriftlich kommuniziert, in knappen Worten mitunter, manchmal freundlicher, da weiß ich noch weniger, was ich davon halten soll. Thema sind immer nur die Eltern oder Erledigungen für sie / mit ihnen.
    Ich finde so ein Verhalten nicht erwachsen und habe schon lange gesehen, dass die Situation darauf zusteuert. Schlimm deshalb, weil hier des Vaters Verhalten nachgezeichnet wird, auch er war Schweigender, wenn er bestraft hat.
    Liebe Grüße zu Dir!

    1. Für mich war es erkenntnisreich. Habe schon eine Menge an Büchern zu diesen Themen gelesen. Dies war insofern hilfreicher, dass man für sich nicht nur auf der kognitiven, sondern auch auf der emotionalen Ebene Erklärungen finden kann. Inwieweit man Veränderungen initiieren kann, ist sicher individuell verschieden. Und: Kontakt ist nur möglich, wenn beide Seiten das zulassen.
      Ich kenne beides: aus Kontakten entfernt zu werden, durch Schweigen, was ich mittlerweile für mich als Missachtung bezeichne und eigene Kontaktabbrüche, weil trotz vielfacher Gespräche und Bemühungen keine Veränderungen möglich waren.
      Ich wollte mir weiteres Türezuschlagen oder Nicht-Aufmachen ersparen, da mir bewusst geworden ist, dass das altbekannte „Spielchen“ sind, die ich nicht mehr mitmachen möchte.
      Tut weh, macht aber auch vieles deutlich.
      Schreib mir doch, wenn du möchtest, wie du dieses Buch gelesen hast.
      Gern auch per Mail.
      Liebe Grüße

      1. Auch ich habe schon Kontakte unterbleiben lassen, weil ich bemerkt habe, dass mit meiner Nähe gespielt wurde. Und dass ich auch belogen wurde, in etwa: Gestern habe ich schon geschlafen, da konnte ich nicht mehr zurückrufen. Ich rufe dich morgen ganz sicher zurück. – Aus dem Rückruf wurde nie was, meine weiteren Anrufe blieben unbeantwortet. Das halte ich dann für eindeutig. Nach über einem Jahr Schweigen kam dann diese Nachricht: Sooft wollte ich Dich schon anschreiben, immer kam was dazwischen.
        Danke, auf solche Kontakte verzichte ich liebend gerne. Das allerdings ein Fall jenseits meiner Familie.

        Bei mir dauert es immer, bis ich wirklich durch bin mit Büchern. Dann werde ich sicherlich darüber schreiben, wie es auf mich gewirkt hat. Ich halte dieses Buch für sehr wichtig, darum habe ich es sofort bestellt. Es war so ein Gefühl …
        Auch mich interessieren solche Spielchen nicht mehr, ich lasse mich nicht herumschieben wie eine Schachfigur am Schachbrett. Wer mich so missachtet, der muss dann auch mit der geschlossenen Tür rechnen. Spätestens dann, wenn wieder Geschenke erwartet werden (Weihnachten, Ostern, Geburtstage), dann wird man ja wieder interessant …
        Ganz liebe Grüße und nochmals danke, ich bin jetzt schon sehr gespannt.
        Liebe Grüße zu Dir!

        1. Bei solchen Büchern brauche ich auch Zeit, das gelesene zu verarbeiten.
          Ich kann warten, ist ja auch kein Muss, sondern einfach Interesse (auch am Austausch).
          Hab einen erholsamen Abend

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