Julia Phillips, Cascadia
Dem gerade erschienenen Roman „Cascadia“ von Julia Phillips ist der Auszug des Grimmschen Märchens von „Schneeweißchen und Rosenrot“ vorangestellt, in dem die Mutter ihren beiden Töchtern zuruft, sie müssten vor dem Bär keine Angst haben: „Der Bär tut euch nichts, er meint’s ehrlich.“
Im Märchen überwinden beide Schwestern ihre Furcht, so dass der Bär mit der Zeit ihr Spielgefährte wird, mit dem sie herumtollen können.
„Cascadia“ endet auch mit einer Märchenversion dessen, was im Roman über die Schwestern Elena und Sam erzählt wird, die mit ihrer kranken, bettlägerigen Mutter in einem von der Großmutter geerbten, inzwischen schon recht maroden Haus auf San Juan Island leben. So stellt Sam sich vor:
„Die Welt war voller Hoffnung, die es zu verwirklichen galt. Lebenslange träume würden wahr. … Sie erzählte sich die Geschichte dessen, was dort passiert war. Darin waren die Schwestern wunschlos glücklich. Sie hatten ein Königreich für sich. Sie waren einander so nah wie zwei perfekte kleine Mädchen aus den Märchen, die Eltern ihren Kindern vor dem Schlafengehen erzählten. Jahr für Jahr sahen sie die schönsten weißen und roten Rosen heranwachsen und lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.“
Doch das ist Sams Traumversion, mit der sie sich aus den Erlebnissen der letzten Wochen herauskatapultiert, für deren Verlauf sie maßgeblich verantwortlich ist. Doch das kann sie, die nie wirklich zuhört – so der mehrfach geäußerte Vorwurf Elenas – sich mit Fantasien und Träumen ihrer Realität entzieht und ständig auf ein anderes, besseres Leben an einem anderen Ort wartet, nicht sehen. Also träumt sie weiter.
Der Erzähler dieses Romans beschreibt das Leben der Schwestern Elena und Sam, die beide als Servicekräfte für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Mutter arbeiten. Der Focus liegt eher auf der Perspektive Sams mit ihren Gedanken und Träumen von einem besseren Leben. Elena ist offensichtlich diejenige, die sich ohne Aufheben sich um alles Wichtige, um das, was getan werden muss, kümmert: um die Finanzen, die Arzttermine und Pflege der Mutter etc.
Und dann taucht – wie im Märchen – ein Bär auf.
Sam, die im Bordcafé einer Fähre arbeitet, sichtet als Erste einen im Meer schwimmenden Bären. Es ist vermutlich derselbe, dem ihre in einem Restaurant eines Golfclubs arbeitende ältere Schwester auf dem Nachhauseweg begegnet.
Das Auftauchen dieses Bären bringt – ähnlich wie im Grimmschen Märchen – so einiges im Leben der Schwestern in Bewegung, die sehr unterschiedlich auf diesen Bären reagieren. Und auf einmal entstehen da Kluften, Gräben zwischen den Schwestern, die vorher – zumindest für Sam – nicht sicht- und spürbar gewesen sind.
Die sonst eher reaktive Sam unternimmt mit aller Macht alles Mögliche, um die vorherigen Lebensumstände wiederzubekommen.
Der Roman macht deutlich, wie sich eigene Vorstellungen und Erfahrungen, wenn sie unreflektiert und ungeprüft als gegebene, unveränderbare Realitäten angenommen werden, zu irrationalen Verhaltensweisen, zu Verdrängungen, zu Fantasievorstellungen und zu Schuldzuweisungen führen können, die meist auch noch eines Sündenbocks bedürfen, um die Verantwortung für eigene Denk-, Sichtweisen, schlicht für das eigene Leben nicht übernehmen müssen. Da steht der Wunsch nach einer Symbiose, die Flucht in Gedanken: Was wäre wenn … im Vordergrund mit verheerenden, unumkehrbaren Folgen.
„… und lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.“ bleibt dann halt der Schluss eines Märchens.
Der Roman hat mich allerdings am Anfang – durch zahlreiche Wiederholungen u.a. von Beschreibungen der Gesichtern der Beteiligten und zahlreiche Rückblenden – eher gelangweilt. Doch allmählich hat sich dann so etwas wie Sinnhaftigkeit und Folgerichtigkeit des Erzählten herauskristallisiert, so dass der Roman zunehmend an Spannung gewonnen hat.
Der Schluss allerdings war dann eher auch wieder vorhersehbar.
Julia Phillips, Cascadia, a.d. Englischen v. Pociao u. Roberta Hollanda, hanserblau, München 2024, 272 S., ISBN 978-3-446-28153-0