Mooses Mentula, Der Schildkrötenpanzer

Mooses Mentula, Der Schildkrötenpanzer

Wenn der Vorwurf erhoben wird,
es sei etwas nicht wirklichkeitsgetreu
dargestellt, dann kann man vielleicht
einwenden, es sei dargestellt,
wie es sein sollte.
Aristoteles

Diese Zeilen Aristoteles sind dem Roman „Der Schildkrötenpanzer“ des Finnen Mooses Mentula vorangestellt, in dem man als LeserIn auch nicht immer weiß, was ist nun in der fiktiven Wirklichkeit eines Romans Wirklichkeit und was Fiktion, zumal dann, wenn die Übergänge sinnigerweise nicht immer klar zu erkennen sind.

Protagonist ist der fast vierzig Jahre alte Tino, der sich in einer „bedrückenden, festgefahrenen Gesamtsituation“ befindet, in der ihm Alkohol als Lebenshilfe dient, den Widrigkeiten seines Lebens zu begegnen, das für ihn vor allem aus
„Verpflichtungen, Voraussetzungen, Erwartungen, Forderungen und Bedingungen bestand. Das erwies sich sogar bei so alltäglichen Verrichtungen wie dem Gang zum Supermarkt: Zu den Pflichten des Kunden gehörte es, einen Mehrwegbeutel anstatt einer Plastiktüte zu benutzen; wenn man in dem Laden häufiger zu tun hatte, wurde vorausgesetzt, das man eine Kundenkarte durch den Schlitz zog; fast schon eine Forderung war es, den Riegel aufs Band zu legen, um die eigenen Einkäufe von denen des folgenden Kunden zu trennen (aber verdammt, war es jetzt die Aufgabe der vorderen oder der hinteren Person, das Trennholz zu plazieren?).“
Gesellschaftlich Anerkanntes hat er noch nicht vorzuweisen: kein abgeschlossenes Studium, keinen Beruf, keine Beziehung. Seine Eltern sorgen sich noch immer um ih, was ihn dann noch zutsätzlich stresst.

Tino lebt zurückgezogen – ohne nennenswerte soziale Kontakte, denn die versetzen ihn in Panik, so muss er sogar den seit Jahren hinausgeschobenen Besuch in einem Friseursalon fluchtartig abbrechen – in einem kleinen, heruntergekommenen Appartement. Erholung von den Strapazen seines Alltags sucht und findet er im Betrachten eines virtuellen Aquariums auf seinem Bildschirm. Die Gedanken an ein eigenes Aquarium hat er schnell wieder verworfen, wohl aber kommt ihm sein eigenes Leben vor wie das „Schwimmen zwischen Haien“ – ohne Hoffnung darauf, ihnen je entkommen zu können.

Auf einem seiner Einkaufsgänge begegnet er dem kleinen Mädchen Tuula und dessen Mutter Mirjam. Tuula fällt auf, dass er eine Sonnenbrillen trägt, obwohl es regnet und spricht ihn darauf an. Das versetzt ihn derart in Panik, dass er in einem kleinen An- und Verkauf-Laden Zuflucht sucht und mit einem Bücherbeutel mit der Aufschrift „Bücher sind Fenster zu Welt“ – inklusive geschenkter Büchern – und einem Schildkötenpanzer wieder verlässt.

Der Verkäufer war kein geringerer als Charles Bukowski. Die Begegnungen dieses Tages und die Erinnerung an ein Interview mit einem Schriftsteller, in dem er sagte, „das Großartige sei die Möglichkeit, während des Schreibprozesses in der Welt zu leben, die man errichtet habe.“ sind für Timo eine Art Initialzündung, die sein Leben entscheidend verändern, in denen es zu weiteren weitreichenden Begegnungen mit anderen Menschen und SchriftstellerInnen und damit auch zu Bewegungen und Veränderungen in seinem Leben kommt.

Und wie gesagt, nicht immer ist klar, was nun tatsächlich erlebt, was geträumt, phantasiert wird, was seinen Wahnvorstellungen und seinen Medikamenten sowie seinem exzessiven Alkoholkonsum zuzuschreiben ist.

Der Roman erfordert die Bereitschaft, sich auf Tinos Reise und ihre merk-würdigen, außer-gewöhnlichen Wendungen einzulassen und seine Absicht, „im Kopf des Lesers eine Geschichte zu lancieren, die erst zu leben beginnt, nachdem die letzte Seite gelesen ist.“

Möge die Phantasie der LeserInnen diese Geschichte weiterleben lassen, jede(r) auf die eigene Art und Weise.
Auf jeden Fall ist ein weiteres ungewöhnliches Werk im Weidle Verlag erschienen. Gratulation.

Mooses Mentula, Der Schildkrötenpanzer, Roman, a. d. Finnischen v. Stefan Moster, Weidle Verlag Bonn 2022, 254 S., ISBN 978-3-949441-03-5

2 Gedanken zu „Mooses Mentula, Der Schildkrötenpanzer

  1. Mit Büchern dieser Art, die changieren zwischen Realität und Fiktion, tue ich mich im Allgemeinen schwer.
    Aber deine Rezension las ich mit Interesse – lieben Dank!
    Und schöne Grüsse ins aprilwettrige Maienheute,
    Brigitte

  2. Solche Romane sind schon eine besondere Lese-Herausforderung ;), denen ich mich ab und zu gerne stelle.
    Wir warten hier sehnsüchtig auf Regen, es ist zwar aprilhaft bedeckt, doch bis jetzt ist das wohltuende Nass nicht in Sicht.
    Herzliche Grüße

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