Sarah Diehl, Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung

Sarah Diehl, Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung

Ein so vielschichtiges, interessantes Buch über Einsamkeit in ihrer großen Bandbreite und ihren Facetten wie das von Sarah Diehl habe ich bisher noch nicht gelesen. Sie räumt mit dem so weit verbreiteten (Vor-) Urteil über Einsamkeit und das Alleinsein als einem mit Mängeln behafteten Zustand auf, wobei sie nicht unter „den Teppich kehrt“, dass es auch soziale Isolation gibt, die nicht immer freiwillig gewählt, sondern strukturell, finanziell und/ oder auch kulturell bedingt und zum Teil gesellschaftlich auch so gewollt ist. Der Einbandtext gibt sehr gut wieder, was Leser*innen erwartet, wenn sie zu diesem Buch greifen:

„Dieses Buch zeigt, was wir verlieren, wenn wir das Potenzial von Alleinsein und Einsamkeit unterschätzen und die Fähigkeit des selbstbestimmten Alleinseins nicht erlernen. Dabei plädiere ich keineswegs für individualisierte Lösungen gegen systemische Ungerechtigkeit, die uns als Menschen trennt. Aber um Ungerechtigkeiten zu überwinden, muss man zunächst einmal zu sich selbst kommen und seine Bedürfnisse und sein Leben verstehen. Man muss einen Raum für sich etablieren, in dem man sich gegen das Narrativ der Mangelhaftigkeit mit sich selbst komplett fühlen kann. Alleinsein ist nämlich nicht (nur) die Abwesenheit von etwas oder jemand anderem, sondern die Anwesenheit meiner ungestörten Wahrnehmung, die mich mit der Welt verbindet.“

Für sie ist „Einsamkeit ein Möglichkeitsraum“, ein Refugium in Zeiten großer Umbrüche und Krisen, in dem man alle Gefühle zulassen, sich anschauen kann, ein Raum, in dem man sich regeneriert und nach einer Zeit auch kreativ nach neuen Möglichkeiten suchen kann, um dann wieder mit Welt in Verbindung zu treten. Wichtig ist ihr auch zu erwähnen, dass ein wichtiger Teil der durch Einsamkeit entstehenden Autonomie ist,

„auch zu wissen, wann du gehalten werden musst, das ist kein Widerspruch. Sich hingeben ist sehr kraftvoll und eine aktive Entscheidung. Wie sind auch so darauf fixiert, dass man Zärtlichkeit nur in einer Partnerschaft bekommen kann, dass wir unter Freunden nicht kuscheln. Mit Freunden kuscheln fühlt sich für viele unangenehm an, vielleicht weil wie die Folgerichtigkeit erlernt haben: Kuscheln muss zu Sex führen. Wir wissen noch nicht, wie wir uns Kuscheln außerhalb einer heteronormativen Folgerichtigkeit aneignen können.“

Sich auf die eigene Einsamkeit einzulassen, sich selbst in ihr zu begegnen, kann bedeuten, bedingungslose Selbstliebe zulassen zu können, langfristig auch mit gesellschaftlichen Konsequenzen. Sarah Diehl ist sich sicher, dass Menschen, die mit sich selbst zufrieden sind, die Verantwortung für ihre Gefühle und Bedürfnisse übernehmen und nicht nur im Außen nach etwas suchen, das ihnen das ersehnte Glück bringt, etwa ein Partner, die Ehe, Kinder etc., nicht mehr so leicht zu manipulieren und zu korrumpieren sind. Dazu gehört der eigene Raum im wahrsten und im übertragenen Sinn. Denn :

„Wenn einem der Raum fehlt, zu sich zu kommen, übt man sich in Selbstverleugnung, und der eigene Körper und das eigene Leben werden zur Leinwand, um die normativen Ideen zu wiederholen.“

Allein sein können, Einsamkeit vielleicht sogar genießen können und die Sehnsucht, der Wunsch liebevolle Gemeinschaft leben zu können, das sind für Sarah Diehl keine unvereinbaren Gegensätze, eher das eine die Voraussetzung für das andere.

Neben dem Lob der Einsamkeit macht Sarah Diehl allerdings auch deutlich, wie sehr Menschen – überwiegend allerdings Frauen – in den heute verbreiteten Kleinfamilien in eine Isolation trotz Zweisamkeit geraten, aus der sie sich nur schwer befreien (können), weil diese Isolation schleichend beginnt, oft mit finanzieller und emotionaler Abhängigkeit einhergeht und dem immer noch verbreiteten Bild, dass nur eine Mutter die für die Kinder bestmögliche Bezugsperson ist. Dass man in anderen Ländern der Meinung ist, dass es ein ganzes Dorf braucht, um Kinder zu erziehen, setzt sich er so ganz langsam durch und scheitert oft auch u.a. an noch fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten.

Dieses Buch ist für mich ein Appell, sich mit der eigenen Einsamkeit, dem Alleinsein – auch in bestehenden Beziehungen – auseinanderzusetzen und sich bewusst zu machen, wie halte ich es damit?
Ich erinnere mich an diverse Zwänge, Abwertungen innerhalb meiner Familie, der Schule, unter Gleichaltrigen, wenn ich mich „ausklinken“, nicht mitmachen wollte, weil ich lieber allein war, als das Gemeinschaftsangebot mitmachen zu müssen. „Wenn wir alle blöd sind, hast du auch blöd zu sein!“ Das bekam ich mal als Antwort. Ansonsten war ich konfrontiert mit „Auszeichungen“ diverser Art: Stubenhocker, Eigenbrötler, Einzelgänger.
Die Bewertungen wurden da gleich mitgeliefert: arrogant, hält sich wohl für was besseres …

Sarah Diehl, Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung. 3. Aufl. Zürich- Hamburg 2023, 399 S. einschließlich Anmerkungen und Literaturverzeichnis, ISBN 978-3-7160-2800-1

10 Gedanken zu „Sarah Diehl, Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung

    1. Die Frage, ob du das Buch lesen solltest, kann ich dir nicht wirklich beantworten, da mir nicht so ganz klar ist, worauf sie genau zielt.
      Soll es dir helfen, Menschen zu finden?
      Es ist eher ein Buch, das einem hilft, wie man die eigene Einsamkeit, das Alleinsein empfindet, einordnet, bewertet. Es geht allerdings auch auf die häufige Isolation Alleinerziehender ein und die gesellschaftlichen Strukturen, die aus Sicht der Autorin dafür mitverantwortlich sind.
      Liebe Grüße

  1. Das hört sich für mich spannend an, obwohl ich mit dem Allein- oder Einsamsein so gar keine Erfahrungen habe.
    Ich war noch nie allein auf mich gestellt und müsste mir wohl, wenn es dazu käme, erst einmal Wissen, Erfahrung und Bereitschaft dafür aneignen.
    Danke für die schöne Rezension und lieben Abendgruss,
    Brigitte

    1. Dann ist der erste Schritt sicher der schwerste, vor allem wenn es kein selbst gewähltes Alleinsein ist, denn dann muss gleichzeitig ja auch noch eine Menge an Trauer bewältigt werden.
      Doch auch da hilft m.E. der Rückzug, damit man Zeit und Raum für das hat, was da anliegt.
      Der oft gut gemeinte Trost anderer war – zumindest für mich – überhaupt nicht hilfreich, eher im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, sie redeten von etwas, was sie selbst nicht kannten.
      Ich hatte im Alleinsein die Möglichkeit, zu mir zu kommen, was allerdings oft mit einem Gefühl von Einsamkeit verbunden war – und das ist dann noch einmal etwas, das mir stärker zugesetzt hat.
      Liebe Grüße in deinen Morgen.

    1. Es geht in dem Buch ja auch um die Not-wenigkeit des Alleinseins in Beziehungen, darum einen eigenen Raum zu haben, um sich selbst nicht zu verlieren, wie das häufiger Frauen passiert, die sich in Ehe, Mutterschaft oft selbst aufgeben.
      Das betrifft dich sicher nicht, zumindest gehe ich davon aus ;)
      Herzliche Grüße aus dem eher trüb-tristen Speckhorn.

  2. Auch ich war lange allein, nach einer beendeten Beziehung. Zehn Jahre erfüllendes Single-Dasein und erst gegen Schluss wieder Lust auf Beziehung. Diese Zeit war ganz wichtig für die Suche nach meinem höchsteigenen Selbstausdruck, nach dem, was mich ausmacht, wohin ich mich entwickeln möchte. Ich habe mich sehr frei gefühlt – und das hat Menschen auf den Plan gerufen, die mir vor Augen führen wollten, wie egoistisch dieses Alleinsein von mir sei. Jemand machte mich zur „Karrierefrau“, die nicht interessiert an Familie sei. Schließlich braucht der Staat Kinder!
    Ich war nie eine Karrierefrau, weit davon entfernt. Dieses Bild kam übrigens von einem Mann, der seine Frau über Jahrzehnte unterdrückt hat. Wie distanzlos und eindimensional, solche Sichtweisen! Wie kann Mann überhaupt einer Frau eine gewünschte Kinderlosigkeit „unterstellen“?
    „Exzentrisch“ bin ich auch genannt worden. Wer nicht gewissen Idealen entspricht, ist eben verdächtig.
    Familienleben ist nicht die einzige Daseinsberechtigung im Leben eines Menschen. Es ist definitiv möglich, auch abseits davon ein erfülltes Leben zu führen.
    Herzliche Grüße in den Abend!

    1. Auf diesen Aspekt geht die Autorin in diesem Buch ebenfalls ein, dass nämlich vor allem Frauen, die allein leben und kinderlos sehr oft be- und abgewertet, mit unterschiedlichen Stempeln bedacht werden. Wer nicht der Norm entspricht, fällt durchs Raster und ist selbst „Schuld“, vor allem, wenn‘s Frauen sind.
      Mir ist auch noch einmal deutlich geworden, in wievielen Sätzen und Bemerkungen ich darauf hingewiesen wurde, was sich für mich als Frau alles nicht „amortisiert“(das ich ja heiraten und Kinder bekäme).
      Sätze: Bis du heiratest ist das wieder weg, wenn du so weiterwächst bekommst du keinen Mann mehr, Männer mögen keine intelligenten Frauen, du bist zu anspruchsvoll …
      Unglaublich!
      Sich aus diesem Wust, sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen, zu befreien, war schon ganz schön heftig und mit Widerstand verbunden.
      Liebe Grüße in deinen Abend

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